Israel und Hisbollah: Rote Linien und Angst vor Eskalation
12. Oktober 2023Die Autobahnen Richtung Beirut waren verstopft, noch bevor die Raketen flogen. Anwohner der Grenzregion im Süden des Libanon hatten die Flucht bereits angetreten, als am Dienstagabend der gegenseitige Beschuss zwischen der islamistischen Hisbollah-Miliz im Libanon und den israelischen Streitkräften aufflammte und sich am Mittwoch fortsetzte.
"Tausende Menschen aus dem Süden haben die Gegend aus Angst verlassen", sagt Lynn Zovighian, Geschäftsführerin von The Zovighian Partnership, einer privat geführten sozialen Investitionsplattform in Beirut, im Gespräch mit der DW.
"Auf unserem Weg nach Beirut waren wir überrascht von der Zahl der Autos, die dorthin fuhren", berichtet Mariam Hoteit. Die Hausfrau und Mutter von fünf Kindern stammt aus der sieben Kilometer vor der Grenze zu Israel gelegenen Stadt Chaqra. "Der Anblick der Autoschlangen vor den Tankstellen hat mich an die Szenen während der Benzinkrise im vergangenen Jahr erinnert", erzählt sie der DW. Die Menschen haben Angst, dass die kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Terrorgruppe Hamas im Gazastreifen im Süden Israels auch auf ihr Land überschwappen könnten.
Libanon: Krisenstaat mit wachsender Armut
Schon jetzt steckt der Libanon in einer ganzen Reihe von Krisen, politisch wie wirtschaftlich. Sie haben zu einem Zusammenbruch der Wirtschaft, einer Inflation von bis zu 250 Prozent und einer nach wie vor bloß geschäftsführenden Regierung ohne Präsidenten geführt. Angaben von Human Rights Watch zufolge leben inzwischen fast 80 Prozent der libanesischen Bevölkerung unterhalb der Armutsgrenze.
Die Hisbollah, die im Südlibanon vom Iran unterstützt als "Staat im Staate" agiert, hat von Beginn an Solidarität mit den Terrorangriffen der Hamas demonstriert. Die militant-islamistische Schiiten-Miliz Hisbollah wird von den USA, Deutschland und mehreren sunnitischen Staaten der Region als Terrororganisation eingestuft, während die EU nur den militärischen Teil der Gruppe so bezeichnet, den politischen Arm davon jedoch ausnimmt. Dieser politische Arm ist tief mit der libanesischen Politik und dem öffentlichen Leben verwoben: Die Hisbollah verfügt über rund zehn Prozent der Parlamentssitze, wird von weiteren libanesischen Parteien unterstützt, finanziert Krankenhäuser und betreibt eigene Banken. Im Südlibanon gilt sie als klar dominierende Kraft.
Nach der verheerenden Explosion im Hafen von Beirut im Jahr 2020, bei der 216 Menschen ums Leben kamen, hatte ihre Popularität abgenommen: Hisbollah-Politiker gelten weithin als verantwortlich für das Unglück. Zudem blockieren sie die Ermittlungen dazu. Doch politisch und vor allem militärisch führt im Libanon weiterhin kein Weg an ihr vorbei.
Raketen in der israelisch-libanesischen Grenzregion
Dieser Tage schaut die Hisbollah allerdings vor allem auf Israel und den Gazastreifen. Aufmerksam verfolgt sie die Entwicklung, nachdem die Hamas am Samstag einen terroristischen Großangriff auf Israel begonnen hat, der die derzeitige militärische Eskalation zwischen Israel und der militanten Islamistengruppe im palästinensischen Gazastreifen ausgelöst hat. Wie die Hisbollah wird auch die Hamas vom Iran unterstützt; EU, USA, Deutschland und andere Länder stufen sie als terroristische Organisation ein.
Bereits am Sonntag hatte die Hisbollah einen kleinen Angriff auf das Gebiet der umstrittenen, von Israel kontrollierten Schebaa-Farmen gestartet. Am Dienstag feuerte die Miliz rund 15 weitere Raketen ab, durch die allerdings niemand verletzt wurde. Am Mittwoch kam es zu weiteren einzelnen Kämpfen, bei denen Agenturberichte zufolge israelische Soldaten verletzt wurden.
In einer Mitteilung der Hisbollah hieß es dazu, sie habe einen israelischen Posten auf Höhe des Grenzdorfes Dhaira "mit Lenkraketen" attackiert. Es handele sich um eine "Antwort auf zionistische Aggressionen vom Montag". Bei israelischen Luftangriffen waren am Montag drei Hisbollah-Mitglieder getötet worden.
Im Gegenzug erklärte die israelische Armee, sie bombardiere libanesisches Territorium als "Antwort auf Panzerabwehrflugkörper, die auf israelische Soldaten zielten". Ein Journalist der Nachrichtenagentur AFP berichtete, er habe im Grenzgebiet mehrere starke Explosionen gehört.
Hisbollah warnt vor "roter Linie"
Auf diese Weise habe die Hisbollah deutlich ihre Präsenz demonstriert, sagt Heiko Wimmen, Projektleiter Libanon der nichtstaatlichen Konfliktverhütungsorganisation International Crisis Group, im Gespräch mit der DW. "Damit zeigen sie, dass sie durchaus in der Lage sind zuzuschlagen, wenn sie dies wollen."
Die Position der Hisbollah sei klar, so Wimmen: "Sie ist im Moment nicht daran interessiert, direkt in diesen Konflikt einzugreifen - solange es keinen Angriff von israelischer Seite oder ein anderes Ereignis gibt, das ihr als Überschreiten einer roten Linie gelten könnte." Eine solche rote Linie könne für die Hisbollah sein, wenn viele Menschen aus Gaza nach Ägypten fliehen müssten oder wenn Israel die Hamas komplett vernichten würde.
"Eine rote Linie könnte für die Hisbollah überschritten sein, wenn das Ausmaß der (israelischen, d.R.) Gewalt im Gazastreifen zu intensiv wird - wie immer auch die Definition von 'intensiv' lauten mag", meint auch Kelly Petillo, Libanon-Forscherin beim European Council on Foreign Relations. "Aber bislang scheint mir, dass die Hisbollah ihr Engagement begrenzt und noch keine roten Linien verletzt sieht", sagte Petillo der DW. Auch Wimmen meint: "Beide Seiten orientieren sich bei ihren Vergeltungsaktionen bisher am Ausmaß der Attacke des jeweils anderen." Bislang werde dadurch eine Eskalation noch vermieden.
Eskalation nicht ausgeschlossen
Gerade Israel dürfte derzeit nicht daran interessiert sein, eine zweite Front zu eröffnen - zumal eine Eskalation mit der Hisbollah auch deren Verbündete Iran, Russland und Syrien stärker auf den Plan rufen könnte. Dennoch könnten die Dinge schnell außer Kontrolle geraten, warnen Experten. Und dann könnte sich tatsächlich schnell ein regionaler Flächenbrand entwickeln.
Wimmen verweist auf die unterschiedlichen Dimensionen: Die Hamas habe am vergangenen Wochenende rund 5000 Raketen auf Israel gefeuert. Die Hisbollah jedoch habe "bereits vor fünf Jahren über ein Arsenal von mindestens 150.000 Raketen" verfügt: "Wer weiß schon, wie viele sie heute haben?"
"Kurzfristig glaube ich nicht, dass Israel seinerseits Feindseligkeiten Richtung Hisbollah unternehmen wird", sagte auch Nathan Brown, Politikwissenschaftler an der US-amerikanischen George Washington University, der DW. Doch wenn die Hisbollah in einem größeren Umfang angreifen sollte, dann sei von israelischer Seite auch mit noch stärkeren Vergeltungsschlägen zu rechnen. Das könne dann durchaus zu einer Eskalation führen, so Brown. Ähnliches gelte, wenn Israel die Hisbollah, die Hamas und den Iran zunehmend als "zusammenhängende strategische Bedrohung" wahrnähme.
Die drei sähen sich teilweise schon jetzt als Verbündete, wenn es um den gemeinsamen "Feind" Israel gehe, meint Mohanad Hage Ali von dem in Beirut ansässigen Forschungsinstitut Malcolm H. Kerr Carnegie Middle East Center. Mit Unterstützung Irans hätten Hisbollah, Hamas, der Palästinensische Islamische Dschihad und andere palästinensische Gruppen bereits vor Jahren eine "Doktrin der Vereinigten Fronten" entwickelt, so der libanesische Experte. Die Idee sei, eine gemeinsame "Abschreckungsdoktrin" extremistischer Gruppen gegen Israel zu schaffen. "Dabei gehen sie davon aus, dass immer dann, wenn eine Partei existenziell bedroht ist, ihr die anderen zur Hilfe kommen."
Mitarbeit: Mohamed Chreyteh (Beirut).
Aus dem Englischen adaptiert von Kersten Knipp.