Beirut nach der Explosion: Kampf gegen Straflosigkeit
3. August 2023"Drei Jahre sind seit der Explosion im Hafen von Beirut vergangen. Und es kümmert in der Politik niemanden - als sei unsere Tochter einfach zufällig gestorben", sagt Paul Naggear. In seiner Stimme liegt Trauer, aber auch Wut.
Denn für Familie Naggear ist seit dem 4. August 2020 nichts mehr, wie es einmal war. Ein Knall, Rauch stieg auf, eine heftige Explosion. Das Fensterglas der Wohnung der Naggears im Stadtteil Gemmayzeh, nahe dem Beiruter Hafen, birst.
Mutter Tracy und Tochter Alexandra, genannt Lexou, erlitten schwere Verletzungen. Einige Tage später starb die dreijährige Alexandra im Krankenhaus. Sie ist eines der jüngsten Opfer der heftigen Explosion, bei der mehr als 220 Menschen getötet wurden.
Tausende wurden dabei seinerzeit verletzt, 300.000 Menschen verloren ihre Häuser und weitaus mehr wurden ihrer Träume beraubt. 2750 Tonnen Ammoniumnitrat, die seit 2013 ungesichert im Beiruter Hafen gelagert hatten, führten zu einer der größten nicht-nuklearen Explosionen unserer Zeit.
Keiner der mutmaßlichen Täter vor Gericht
Lange Zeit konnten die Naggears nicht in ihrer Wohnung in Beirut leben, der Schmerz, die Angst, die Erinnerung - alles machte ihnen schwer zu schaffen. Sie zogen nach Beit Mery in die Berge des Libanon.
Dazu kommt die Verzweiflung, die im Land herrscht, angesichts eines dermaßen verheerenden wirtschaftlichen Kollaps, dass die Weltbank die Krise eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts nannte. Außerdem hat das Land derzeit auch (mal wieder) keinen Staatspräsidenten.
Erst seit Ende 2022 sind die Naggears zurück in ihrer Beiruter Wohnung. "Wir haben lange versucht, unser Leben wieder in den Griff zu kriegen. Und ich glaube, es geht uns jetzt ein bisschen besser", erzählt Architekt Paul Naggear.
"Wir kämpfen weiter", sagt er. Kaum ein Tag vergeht, an dem das Ehepaar Tracy und Paul Naggear nicht gemeinsam mit anderen Angehörigen von Opfern der Explosion für Gerechtigkeit kämpft. "Man muss seine eigenen Wege finden, um zu seinem Recht zu kommen in diesem Land. Gerechtigkeit ist im Libanon leider kein Menschenrecht. Es ist sehr, sehr schwer, und es ist sehr schwer zu ertragen", sagt Paul.
Denn auch drei Jahre nach der Explosion ist bisher keiner zur Rechenschaft gezogen worden. Und das, obwohl offenbar umfangreiche Beweise vorliegen, die libanesische Beamte und Politiker mit der Explosion in Verbindung bringen.
"Die Ermittlungen sind schon lange ins Stocken geraten", sagt Lina Khatib, Direktorin des Middle East Institute an der SOAS-Universität in London und Associate Fellow am Chatham House.
Richter Tarek Bitar im Visier
Die Ermittlungen, von denen Lina Khatib spricht, sind die von Richter Tarek Bitar. Viele Angehörige, so auch Tracy und Paul Naggear, setzen ihre Hoffnungen auf den Mann, der aus dem ärmlichen Akkar im Norden des Libanon stammt und als unbestechlich gilt.
Angesichts einer langen Geschichte der Straflosigkeit im Libanon und der Wirtschaftskrise sind Bitars Ermittlungen das Einzige, was den Menschen Hoffnung auf Gerechtigkeit gibt. "Der Fall der Explosion im Beiruter Hafen ist mir heilig", sagte Bitar der libanesischen Zeitung "L'Orient-Le Jour" in einem seltenen Interview im Februar 2021.
Doch Bitar werden seither mehr als nur Steine in den Weg gelegt. Seine Ermittlungen wurden 2021 zunächst eingestellt, nachdem Richter des Kassationshofs in den Ruhestand gegangen waren und hochrangige Politiker rechtliche Schritte gegen Ermittlungsrichter Tarek Bitar eingeleitet hatten.
Im Oktober 2021 löste die Debatte um seine Arbeit in Beirut teilweise gewaltsame Proteste aus. "Richter Tarek Bitar wird angegriffen, weil er eindeutig Mitglieder der politischen Elite im Zusammenhang mit der Explosion vom 4. August angeklagt und belastet hat", sagt Diana Menhem, Geschäftsführerin der libanesischen Organisation Kulluna Irada in Beirut, die allein von In- und Auslandslibanesen finanziert wird.
Als Bitar im Januar 2023 versuchte, die Ermittlungen wieder aufzunehmen, beschuldigte ihn der Generalstaatsanwalt Ghassan Oweidat der Rebellion gegen die Justiz, lud ihn vor und belegte ihn mit einem Reiseverbot.
"Diese gerichtlichen Verzögerungen sind politisch motiviert, weil sie darauf abzielen, Mitglieder des politischen Establishments von der Rechenschaftspflicht freizusprechen", sagt Lina Khatib von der SOAS-Universität.
Führende politische Persönlichkeiten aus dem gesamten politischen Spektrum wollten nicht, dass die Untersuchung Früchte trage. "Das liegt daran, dass die meisten Personen, die direkt oder indirekt mit der Explosion im Hafen zu tun haben, zufällig aus diesem Kreis der politischen Anführer des Landes stammen."
Mittlerweile sind viele sogar besorgt um Bitars Leben. Denn der Libanon hat auch eine lange Geschichte politischer Morde, die nie aufgeklärt wurden. Es sei kein Geheimnis, dass Bitar Morddrohungen erhalten habe, sagt Diana Menhem.
Bitar hatte dies im September 2021 gegenüber dem Sender France24 bestätigt. Auch Paul Naggear hofft, dass Tarek Bitar seine Arbeit fortsetzen kann und ihm nichts passiert: "Das wäre schrecklich."
Suche nach Gerechtigkeit im Ausland
Die Familien der Opfer, Rechtsgruppen und auch libanesische Parlamentarier suchen aber auch nach anderen Wegen, um Gerechtigkeit zu erlangen. Zum einen besteht die anhaltende Forderung an den Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen, eine internationale Untersuchungskommission einzurichten.
"Eine internationale Untersuchung könnte die Fakten und Umstände aufklären, einschließlich der Ursachen der Explosion. Sie könnte auch die Verantwortung des Staates und einzelner Personen feststellen und die Bemühungen um Gerechtigkeit und Wiedergutmachung für die Opfer unterstützen", heißt es von der Organisation Human Rights Watch.
Zum anderen gehören dazu auch Zivilklagen wie die erfolgreiche Klage in Großbritannien: Sie richtete sich gegen Savaro Limited, ein Chemiehandelsunternehmen im Vereinigten Königreich, dem die 2750 Tonnen Ammoniumnitrat gehörten.
Ein britisches Gericht entschied im Februar 2023 zugunsten von drei Familien, deren Angehörige Opfer der Explosion geworden waren. "Das Urteil gibt uns Hoffnung, denn es ist bisher der einzige erste Schritt zu mehr Gerechtigkeit", sagt Paul Naggear.
Zudem haben die Schweizer Stiftung Accountability Now und einige Angehörige der Opfer in Texas Klage gegen den US-amerikanisch-norwegischen Geophysikkonzern TGS eingereicht, dem ein Unternehmen gehört, das das Schiff mit dem Ammoniumnitrat im Jahr 2012 als Subcharterer eingesetzt haben soll.
Nicht mehr sicher im Libanon
Viele Libanesen haben sich vom Staat längst abgewendet - in sämtlichen Belangen. Auch die vor drei Jahren noch wohlhabende Mittelschicht kämpft zum Beispiel nun ums wirtschaftliche Überleben.
"Der Libanon befindet sich derzeit in einem desolaten Zustand. Die Menschen haben die Hoffnung verloren, dass der Staat in der Lage sein wird, selbst ihre grundlegenden Bedürfnisse zu befriedigen", sagt Lina Khatib. Das geht auch den Naggears so.
Paul und Tracy Naggear haben mittlerweile einen kleinen Sohn bekommen, fühlen sich im Libanon aber nicht mehr sicher und verbringen daher so viel Zeit wie möglich im nahegelegenen Zypern. Sie wollen dennoch weiterkämpfen, auch wenn sie wissen, dass es schwierig sein wird. "Wir werden unseren Kampf so lange fortsetzen, bis wir die Wahrheit kennen und Gerechtigkeit für unsere Tochter erlangt haben", sagt Paul Naggear.