Libanon: Eine Krise jagt die nächste
25. März 2023Früher standen die Telefone von Pure Taxi in Beirut nicht still. 30 Autos waren kurz nach der Gründung des Unternehmens 2014/2015 unterwegs und haben die Kunden von A nach B gebracht. Das Geschäft florierte.
Heute, acht Jahre später, sind es gerade mal acht Fahrer mit ihren Autos, die das Unternehmen noch beschäftigen kann. "Und auch diese acht Fahrer sind nicht dauerhaft im Einsatz", erzählt Karim Merheb, einer der beiden Gründer des Taxi-Unternehmens. "Wir haben mittlerweile unser Büro aufgegeben und organisieren alles nur noch über unsere Telefone." Zu teuer seien Miete, Strom und Internetkosten geworden - "und die Rechnungen hätten wir auch noch in US-Dollar begleichen müssen. Das ging einfach nicht mehr."
"Eine der weltweit schlimmsten Krisen seit Mitte des 19. Jahrhunderts"
Der Libanon steckt nicht nur in einer politischen Krise, sondern auch in einer Wirtschaftskrise, wie sie das Land noch nicht erlebt hat. Diese Krise ist laut Weltbank "eine der weltweit schlimmsten seit Mitte des 19. Jahrhunderts". Das libanesische Pfund hat seit Ende 2019 ungefähr 90 Prozent seines Wertes verloren. Devisen sind mittlerweile ein kostbares Gut. Waren vor der Krise 2019 150.000 Pfund noch 100 US-Dollar wert, so bekommt man für dieselbe Summe heute nur noch 1,50 US-Dollar.
Dennoch bemüht sich Karim Merheb, zuversichtlich zu klingen, er könne die Lage ja nicht ändern. Doch er räumt auch ein, dass "die Lebensqualität sich drastisch verschlechtert hat". Man verdiene einfach kaum noch was. "Wir mussten die Preise angleichen, denn die Menschen, die ihr Gehalt in libanesischen Pfund ausgezahlt bekommen und nicht in Dollar, können sich die alten Preise nicht mehr leisten."
Die meisten Geschäfte, Apotheken und andere Dienstleister zeichnen ihre Waren nur noch in US-Dollar aus. "Viele Libanesen sind auf Überweisungen von Angehörigen aus dem Ausland angewiesen. So haben sie einen gewissen Zugang zum US-Dollar", sagt Lina Khatib, die designierte Direktorin des SOAS Middle East Institute.
Für diejenigen in der Bevölkerung, die nicht an harte Währung kommen, bedeutet das einen dramatischen Verlust an Kaufkraft. Dazu kommt: Weil dem Land die Devisen ausgehen, erlauben Banken ihren Kunden nur noch begrenzte Abhebungen. Für etliche Betroffene bedeutet das, dass sie kaum über die Runden kommen, obwohl sie eigentlich Geld auf dem Konto haben. "Die Krise hat im Libanon eine große Kluft geschaffen zwischen denen, die Zugang zu US-Dollar haben und denen, die diesen nicht haben", so Khatib.
US-Dollar sind überall erwünscht
Karim Merheb und sein Geschäftspartner nehmen natürlich auch die lokale Währung als Zahlungsmittel an, denn sonst würden sie viele Kunden nicht mehr transportieren können.
So geht es auch Mahmoud Sidawi, er ist Automechaniker in Beirut, repariert Fahrzeuge an Ort und Stelle. Doch kaum jemand lasse sein Auto noch reparieren, erzählt er am Telefon. "Die Menschen haben wichtigere Bedürfnisse, sie müssen ihre Familien ernähren, Schulgebühren zahlen. Da laufen mittlerweile einige lieber zu Fuß zur Arbeit, egal wie weit der Weg ist oder wie heiß es ist." Man lebe im Libanon von der Hand in den Mund, von einem auf den anderen Tag, sagt Sidawi. "Hier ist nichts sicher. Wir haben einfach so viele Probleme."
Der Libanon ist zu einem Land geworden, in dem die Bargeldwirtschaft dominiert. Experten halten das für gefährlich, denn dadurch fließt das gesamte Geld in den privaten Sektor. Der Bankensektor ist lahmgelegt und das Land steht vor dem Bankrott. Doch wer ist dafür verantwortlich?
Korruption und Misswirtschaft der libanesischen Politiker
"Für diese gewaltige Wirtschaftskrise sind vor allem die politischen Entscheidungsträger im Libanon, die Teil eines korrupten politischen Systems sind, verantwortlich. Das System hat es diesen Leuten ermöglicht, dem Staat Geld zu stehlen", sagt Lina Khatib. Gegen Riad Salameh, zum Beispiel, den langjährigen Chef der Zentralbank, wird in mehreren europäischen Ländern wegen Korruption und Geldwäsche ermittelt.
"Viele dieser Politiker haben es geschafft, ihr Geld ins Ausland zu bringen. Sie sind also nicht selbst von der Krise betroffen." Im Gegenteil - einige profitierten sogar von ihr, so Khatib. "Viele von ihnen gehören nicht nur zur politischen Elite, sondern auch gleichzeitig zur Wirtschaftselite. Wenn also der Wert des Dollars gegenüber der Lira steigt, verdienen sie mehr Geld, wenn sie Zugang zu US-Dollars haben."
Der Hisbollah, die im Libanon an der Regierung beteiligt ist, sei es gelungen, die Krise zu ihrem Vorteil zu nutzen. Sie sei beispielsweise am Schmuggel von Waren zwischen dem Libanon und Syrien beteiligt, und als Hauptverantwortliche an den Landesgrenzen, am Hafen und am Flughafen, könne sie günstige Waren aus dem Iran einführen und verkaufen, ohne Zoll zu zahlen, so die Expertin.
Verschiedene Wechselkurse im Umlauf
Jahrelang war das libanesische Pfund mit einem festen Wechselkurs an den Dollar gebunden. Daher benötigte die Zentralbank ausreichend Devisen zur Deckung der lokalen Währung. Mit außergewöhnlich hohen Zinsen lockten die Banken immer mehr Sparer, Dollar auf ihr Konto einzuzahlen. Die Zinsen bezahlte die Zentralbank, indem sie sich immer höher verschuldete. Ausländische Geldgeber verloren daraufhin das Vertrauen, das Finanzsystem brach zusammen.
Die Folgen müssen diejenigen ausbaden, die keinen Reichtum angehäuft oder Geld im Ausland haben. Besonders betroffen ist die Mittelschicht, sagt Lina Khatib. Sie seien diejenigen, die ihr Geld in den Banken im Libanon gespart hätten und nicht mehr drankämen. "Das sind die Menschen, die über Nacht ihre Ersparnisse verloren haben und sich plötzlich unterhalb der Armutsgrenze wiederfinden. Oder nehmen wir diejenigen, die jahrzehntelang im öffentlichen Dienst gearbeitet haben und jetzt in Rente gehen: Plötzlich ist ihre Rente wertlos, weil sie in libanesischer Lira ausgezahlt wird."
Nach UN-Angaben sind etwa drei Viertel der Bevölkerung des Landes inzwischen von Armut betroffen. Das Recht auf Nahrung ist im Libanon in der gesamten Gesellschaft stark bedroht. Einer Studie von Human Rights Watch von Anfang 2022 zufolge musste in mehr als einem von vier Haushalten ein Erwachsener eine Mahlzeit ausfallen lassen, weil nicht genug Geld oder andere Ressourcen für die Beschaffung von Lebensmitteln vorhanden waren.
Sorge um den sozialen Frieden
Houssein Al Malla befürchtet, dass die Wirtschaftskrise Armut und Ungleichheit weiter verschärfen wird und es zu sozialen Unruhen kommen könnte. "Ich fürchte, das lässt sich nicht vermeiden", sagt der Experte vom Giga-Institut Hamburg.
"Da die Mittel für Infrastruktur schwinden, könnten sich auch öffentliche Dienstleistungen wie Gesundheit, Bildung und Transportwesen weiter verschlechtern - was wir in Teilen bereits erleben." Außerdem verließen immer mehr qualifizierte Bürger das Land.
Lina Khatib kritisiert, dass die internationale Gemeinschaft es der politischen Elite im Libanon indirekt ermöglicht habe, über Jahre hinweg an der Macht zu bleiben, da sie dem Libanon häufig ausländische Hilfe gewährte, ohne auf Reformen als Bedingung für diese ausländische Hilfe zu bestehen. Dabei ist die Umstrukturierung des Bankensystems dringend nötig, um internationale Unterstützung zur Wiederbelebung der Wirtschaft zu bekommen. Mittlerweile besteht der Internationale Währungsfonds (IWF) auf Reformen im Gegenzug für ein IWF-Darlehen: "Seit 2019 lehnt die politische Elite im Libanon die Intervention des IWF ab, weil sie diese Auflagen nicht will."
Kurzfristige Hilfen aus dem Ausland reichen nicht
Derzeit fokussiere sich Hilfe aus dem Ausland auf die Unterstützung nicht-staatlicher Organisationen. Das sei gut und richtig, sagt Khatib, auf lange Sicht aber nicht ausreichend. "Was wirklich getan werden muss, ist, dass die internationale Gemeinschaft zusätzlich zu den kurzfristigen Maßnahmen auf Reformen bestehen sollte." Außerdem empfingen Europa und die USA libanesische Politiker als Gäste, nur sehr wenige Personen stünden auf Sanktionslisten. "Das verschafft ihnen indirekt eine Legitimität im Land", so die Libanon-Expertin.
Houssein Al Malla hofft, dass der Libanon in Zukunft seine Wirtschaft diversifiziert und sich auf "Sektoren mit Wachstumspotenzial, wie erneuerbare Energien, Technologie und Tourismus spezialisiert". Aber: "Um ausländische Investitionen anzuziehen, muss der Libanon ein attraktives Umfeld schaffen, indem er die Infrastruktur verbessert, die Bürokratie abbaut und einen stabilen Rechtsrahmen schafft", so Al Malla.
Doch davon ist das Land zum jetzigen Zeitpunkt weit entfernt. "Der Staat ist einfach abwesend", sagt Automechaniker Mahmoud Sidawi. "Wir kümmern uns um uns selbst."