EU-Integration des Westbalkans - Bilanz und Ausblick
28. Dezember 2020DW: Wir sind am Jahreswechsel. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft geht zu Ende. Aus dem Westbalkan kommt Enttäuschung, weil einige zentrale Punkte nicht vorangekommen sind: die Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien, die Visaliberalisierung mit Kosovo, der Dialog Serbien-Kosovo. Wie fällt Ihre Bilanz aus?
Susanne Schütz: Die Annäherung des Westlichen Balkans an die EU als eine strategisch wichtige Entscheidung für die Region, aber auch für uns, stand für Deutschland ganz weit oben auf der Tagesordnung. Im Rückblick auf 2020 freuen wir uns, dass es auf dem Westlichen Balkan wichtige Fortschritte gegeben hat. Auch wenn sich die Menschen in der Region möglicherweise noch mehr erhofft hatten, muss man doch das Glas als halbvoll sehen. So gab es die ganz wichtige Entscheidung der EU-Mitgliedsstaaten im März zugunsten einer Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit Albanien und Nordmazedonien - eine wichtige politische Entscheidung, die ja erst nach einigen Anläufen gelungen war. Selbstverständlich hätten wir uns sehr gewünscht, jetzt zum Jahresende auch schon erste Beitrittskonferenten durchzuführen. Auf diesem Weg sind wir mit beiden Ländern auch schon sehr weit gekommen. Bei Albanien fehlen noch an ein paar Voraussetzungen, die aber, so hoffen wir, Anfang des nächsten Jahres erfüllt sein werden. Zu Nordmazedonien sind wir natürlich sehr enttäuscht, dass es uns trotz wirklich intensiver Arbeit mit beiden Ländern - mit Bulgarien und Nordmazedonien - nicht gelungen ist, hier einen Kompromiss zu moderieren.
Zugleich dürfen wir nicht vergessen, dass Nordmazedonien den NATO-Beitritt geschafft hat. Das ist wirklich ein sehr wichtiger Schritt gewesen, der durch das Prespa-Abkommen erst ermöglicht wurde.
Und außerdem sind wir auch im Normalisierungsdialog zwischen Kosovo und Serbien weitergekommen. Mit der Ernennung von Miroslav Lajčák zum Sonderbeauftragten der EU für den Dialog ist auch tatsächlich die Wiederaufnahme des Dialogs nach einer langen Pause gelungen.
Sie haben die Visaliberalisierung für Kosovo bereits angesprochen: Das ist tatsächlich ein schwieriger Prozess, wo es bei einigen EU-Mitgliedsstaaten noch Skepsis zu überwinden gilt. Aber auch da haben wir das Thema in Brüssel wieder auf die Tagesordnung der Ratsarbeitsgruppen gebracht, verbunden mit der Bitte an die Kommission, hier noch weitere Informationen zu liefern. Dies ist eine gute Voraussetzung, um die Gespräche im kommenden Jahr fortzusetzen und dann hoffentlich zu einer Visa-Liberalisierung zu kommen und das Versprechen der EU endlich umzusetzen.
Noch viele Differenzen zu überwinden
Bezüglich der Beitrittsfortschritte fehlen bei Albanien noch ein paar Voraussetzungen, sagen Sie - was muss geschehen?
Rechtsstaatlichkeit ist natürlich ein ganz wichtiges Thema. Bei Albanien geht es außerdem aber auch um die Funktionsfähigkeit der obersten Gerichte, also des Verfassungsgerichts und des Obersten Gerichts. Wir begrüßen es daher, dass in Albanien mit der Ernennung eines 6. Verfassungsrichters die Funktionsfähigkeit des Verfassungsgerichts wieder gegeben ist. Wir erwarten, dass dies auch bald für das Oberste Gericht gelten wird. Dies ist eine wichtige Voraussetzung für die Zustimmung der EU-Mitgliedstaaten zu den nächsten Schritten.
Wie bewerten Sie die Chancen, dass Nordmazedonien und Bulgarien bald einen Kompromiss im Geschichtsstreit finden werden?
Die Gespräche müssen jetzt im nächsten Jahr wiederaufgegriffen werden. Dabei haben wir immer wieder deutlich gemacht, dass bilaterale Themen, insbesondere historische Differenzen, im Beitrittsprozess keinen Platz haben. Deshalb haben wir dafür plädiert, dass Fragen, die die gemeinsame Geschichte betreffen, in der Historikerkommission diskutiert werden, die beide Staaten im Rahmen des Freundschaftsvertrags eingerichtet haben. Letztlich wünscht ja auch Bulgarien, dass Nordmazedonien der EU beitreten kann.
Wie sehen Sie die Perspektive eines Ausgleichs zwischen Serbien und Kosovo?
Die innenpolitische Lage im Kosovo hat den Dialog natürlich verkompliziert. Dennoch haben seit Sommer mehrere Treffen auf politischer Ebene und vor allen Dingen auch auf Expertenebene stattgefunden, in denen sich - so hören wir - beide Seiten konstruktiv engagiert haben. In der Sache gibt es natürlich weiter viele zu überwindende Differenzen. Entscheidend ist, dass am Ende eines Dialogs ein umfassendes Abkommen steht, das die vielen offenen Fragen nachhaltig regelt - und in beiden Ländern politisch tragfähig ist. Das ermöglicht Serbien und Kosovo perspektivisch den EU-Beitritt und trägt zur regionalen Stabilität bei.
Wie realistisch ist es, dass Serbien wirklich Zugeständnisse macht?
Das Interesse Serbiens sollte sein, diesen Dialog voranzubringen, im Rahmen seiner eigenen EU-Beitrittsverhandlungen. Wir wissen, dass das nicht einfach ist, aber ich glaube, dass Serbien auch erkennt, dass die Unabhängigkeit Kosovos nicht mehr umzukehren ist. Wir sollten auch nicht vergessen, dass es in den Vereinigten Staaten ab dem 20. Januar eine andere Regierung geben wird, die den Gesprächen sicherlich nochmal einen neuen Schwung verleihen wird.
Zum Dialog Serbien-Kosovo: Ist die Idee eines "Deals" zwischen Serbien und Kosovo mit Gebietsaustausch endgültig vom Tisch?
Die EU, deren führende Rolle in diesem Dialog auch von den USA anerkannt wird, hat immer wieder betont, dass ein Abkommen verhandelt werden muss, das zur Stabilität beiträgt und nicht die Stabilität untergräbt. Daher sehe ich die Idee eines Gebietstauschs vom Tisch.
Positive Signale kommen in den letzten Wochen aus Montenegro: Welche Erwartungen stellen Sie an die Krivokapic-Regierung?
Es ist zu begrüßen, dass sich der neue Premierminister zur EU-Integration und zur NATO-Mitgliedschaft bekannt hat - und auch die Anerkennung Kosovos nicht in Frage stellt. Wir erwarten nun, dass Montenegro, das ja bislang führend in den EU-Verhandlungen ist, seinen Reformprozess jetzt fortsetzt. Hier gilt es, die neue Regierung an konkreten Ergebnissen zu messen.
Last but not least ein Blick nach Bosnien-Herzegowina. 25 Jahre nach dem Dayton-Friedensvertrag haben viele das Fazit gezogen: Man braucht unbedingt eine neue Struktur, einen neuen verfassungsgebenden Prozess. Wie unterstützen Sie das Land, handlungsfähig zu werden?
25 Jahre nach Dayton ziehen wir grundsätzlich erst einmal ein positives Fazit, denn wir haben auch 25 Jahre Stabilität erreicht. Zugleich sehen wir, dass Bosnien und Herzegowina noch weit zurück ist in seinem EU- Annäherungsprozess. Dennoch hat es auch wichtige Fortschritte bei der EU-Annäherung gegeben. Mit Unterstützung der EU gilt es jetzt, den 14-Punkte-Plan umzusetzen. Auch der Hohe Repräsentant trägt das Seine dazu bei, dass das Land vorankommt. Wir wollen uns hier gerne stärker einbringen, um neue Dynamik zu schaffen.
Bekenntnis zur EU - Bekenntnis zu gemeinsamen Werten
Deutschland ist ja in vielem Orientierungspunkt des Westlichen Balkans - wirtschaftlich, politisch. Was möchten Sie zukünftig aus dieser Stärke und diesem Vertrauen machen?
Wichtig war im zu Ende gehenden Jahr, dass wir den Westlichen Balkan ganz oben auf unserer Agenda der EU hatten und dass wir mit unserer Politik gezeigt haben, dass die Integration des Westlichen Balkans in die EU ein strategisches Ziel für uns ist.
Und wir werden diese Politik auch im nächsten Jahr weiter aktiv fortsetzen, auch wenn wir nicht mehr die Ratspräsidentschaft haben. So hat Deutschland für das kommende Jahr den Vorsitz im Berliner Prozess übernommen, der auf deutsche Initiative mit den Westbalkanstaaten und einigen EU-Partnern 2014 aufgesetzt wurde. Wir werden an den wichtigen Entscheidungen des letzten Berliner Prozess-Gipfels von Sofia anknüpfen, der erfolgreich einen von allen sechs Westbalkanländern getragenen Gemeinsamen Regionalen Markt aufgesetzt und beschlossen hat, sich eine "Green Agenda" zu geben.
Für die Menschen in der Region dauert das alles zu lange, besonders die jungen Leute stimmen mit den Füßen ab und kehren ihrer Heimat den Rücken. Was muss da passieren?
Dies ist eine sehr wichtige Frage, die wir ja auch Ende Oktober im Rahmen einer Konferenz zu Jugend, Migration und Demographie mit Vertretern von Regierungen und Zivilgesellschaft aufgegriffen haben. Dort waren fehlende Rechtsstaatlichkeit und auch Korruption als Beweggründe für Migration ganz wichtige Stichworte. Wir werden hieran im Rahmen unseres Vorsitzes im Berliner Prozess anknüpfen und den Dialog mit Zivilgesellschaft und Jugendlichen fortsetzen. Natürlich werden wir auch die Regierungen in der Region immer wieder dazu aufzufordern, sich an rechtsstaatliche Grundsätze zu halten und Korruption noch aktiver zu bekämpfen. Hinzu kommen weitere Elemente, zum Beispiel Fragen des Bildungssystems und Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Wichtig ist, in den Ländern selbst die Bedingungen zu schaffen, um den Menschen dort eine Zukunftsperspektive für sich und ihre Familien zu geben.
Was erwarten Sie von den Westbalkan-Politikern im Jahr 2021 und was bieten Sie dafür?
Die Botschaft an die Region ist: Ihr habt die Perspektive, Mitglieder der EU zu werden. Sowohl die Regierungen als auch die Menschen in der Region haben sich ganz klar hierfür entschieden. Dafür muss aber natürlich auch etwas geleistet werden. Fortschritte bei Rechtsstaatlichkeit, Unabhängigkeit von Justiz und Medien, der Bekämpfung von organisierter Kriminalität und Korruption sind zuallererst im Eigeninteresse der Staaten und ihrer Bevölkerung. Das Bekenntnis zur EU ist eben vor allem ein Bekenntnis zu einer Gemeinschaft von Werten und Standards. Dies fordern die Menschen der Region von ihren Regierungen ein. Und hieran werden auch wir die Regierungen des Westlichen Balkans im kommenden Jahr bei Bedarf erinnern und messen.
Botschafterin Susanne Schütz ist Beauftragte im Auswärtigen Amt u. a. für die Länder des Westlichen Balkans. Von 2016 bis 2019 war sie Botschafterin der Bundesrepublik Deutschland in Albanien.