In der derzeitigen politischen Gemengelage in Europa ist an eine EU-Erweiterung Richtung Westbalkan nicht zu denken. Das ist die einfache und klare Wahrheit: Die Europäische Union steckt in vielen inneren Zerreißproben, und es ist in Bezug auf die Länder des Westbalkans vollkommen uneins. Die Signale, die aus den europäischen Hauptstädten Richtung Sarajewo bis Tirana ankommen, sind widersprüchlich und zeigen das Dilemma auf: Immer wieder werden die Länder vertröstet, einmal gemachte Zusagen aufgeschoben, neue politische Player fühlen sich alten Versprechungen nicht verpflichtet. Es ist Zeit für eine neue Westbalkanstrategie der EU, eine Strategie, die in der EU durchsetzbar ist und die den Menschen in den Ländern des Westlichen Balkans konkrete und machbare Perspektiven aufzeigt. Der sogenannte Berliner Prozess (in dessen Rahmen jetzt der Posener Westbalkangipfel stattfand) ist der Schlüssel für diesen Weg!
Unbelohnte Anstrengungen
Die Dramaturgie der letzten Jahre und Monate: Die EU stellt Nordmazedonien und Albanien die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen in Aussicht. Die Länder unternehmen zahlreiche Anstrengungen, diese zu erfüllen. Nordmazedonien schafft unter Aufgabe seines Staatsnamens sogar eine historische Aussöhnung mit Griechenland, auch Albanien setzt den von der EU geforderten schmerzhaften Vetting-Prozess zur Überprüfung aller Richter und Staatsanwälte in Gang. Es gibt vielfaches Lob von allen Seiten. Doch die EU-Mitglieder missachten ihr 2018 gegebenes Versprechen und verschieben erneut den Beginn der Beitrittsverhandlungen.
Natürlich gibt es dafür viele gute Gründe, besonders die aktuelle Staats- und Verfassungskrise in Albanien stellt viele Fortschritte wieder in Frage. Doch auch so hätte die EU zu ihrer Zusage stehen und die Verhandlungen beginnen können. Es wäre ja nur der Startschuss in einem langwierigen Prozess, der sich sicher über viele Jahre erstrecken wird! Aber die Zusage von Thessaloniki (2003), die sechs Westbalkanstaaten an die EU heranzuführen, ist längst nicht mehr mehrheitsfähig in der EU. Wer will noch wirklich eine Erweiterung in der EU? Der französische Präsident Emmanuel Macron hat es klar gesagt: Erst Vertiefung, dann weitere Aufnahmen.
Niemand denkt an Erweiterung
Montenegro und Serbien verhandeln immerhin bereits seit mehreren Jahren, auch wenn der Prozess stockt. Bei Bosnien-Herzegowina und Kosovo ist an eine Aufnahme von Verhandlungen nicht zu denken. Kosovo ist das einzige Land in Europa ohne Reisefreiheit, und die versprochene Visaliberalisierung verzögert sich immer wieder. Dass es mit einem Außenbeauftragten Borrell, dessen Land Spanien Kosovos Unabhängigkeit nicht anerkannt hat, zu Erleichtungen Richtung Kosovo kommen wird, ist mehr als fraglich. Dass ausgerechnet die beiden EU-Protektorate am aller wenigsten EU-reif sind, zeigt die fehlende Kohärenz der europäischen Westbalkan-Politik vielleicht am deutlichsten.
Jetzt ist das Dilemma beim Westbalkangipfel in Posen wieder offen zu Tage getreten. Der. polnische Präsident Duda zeigte sich offen enttäuscht über das Zaudern seiner europäischen Partner, den Westbalkanländern mehr Annäherung anzubieten, Merkel beschwichtigte - und Macron war gar nicht erst erschienen.
Kleine Schritte statt großem Wurf
Dabei gibt es viele konkrete Fortschritte in der regionalen Zusammenarbeit, angefangen von Instrastrukturprojekten bis zum regionalen Jugendwerk RYCO, Projekte und Maßnahmen, auf die die Beteiligten des so genannten Berlin-Prozesses mit Recht stolz sein können und die den Menschen in der Region wirkliche Verbesserungen bringen.
Das sollte stärker nach vorn gestellt werden. Wirtschaftliche Erleichterungen und Förderungen von Kooperationen sollten weiter gestärkt werden. Wenn es auf vielen Ebenen mehr Durchlässigkeit und Austausch zwischen den Ländern des Westbalkans und der EU gibt, ist das Menetekel des EU-Beitritts nicht mehr vorrangig. Die gegenseitige Anerkennung von Diplomen, die jetzt in Posen vereinbart wurde, ist ein echter und konkreter Fortschritt für tausende junger Akademiker! Machen wir uns ehrlich: Wenn der große Wurf der EU-Mitgliedschaft auf mittlere Sicht nicht durchsetzbar ist, sind es die vielen kleinen Schritte nachbarschaftlicher Normalisierung, natürlich verbunden mit klaren Anforderungen an rechtsstaatliche Normen und Reformen. Das ist es, was die Menschen wirklich brauchen und schätzen. Der von Kanzlerin Merkel 2014 initiierte Berliner Prozess ist in der derzeitigen EU-Krise wohl das realistischste Instrument konkreter Annäherungspolitik.