Martin Walser ist 95
24. März 2022Walser polarisiert: Ein Poltergeist manchmal, streitlustig, eitel, selbstkritisch und literarisch umstritten. Seit über sieben Jahrzehnten verfolgt der Schriftsteller Martin Walser mit seinen Büchern, Aufsätzen und pointierten Reden das Geschehen in der Bundesrepublik. Dabei setzte er sich in seinen Romanen schon früh mit der Wiedervereinigung auseinander. Unstrittig ist sein Rang als einer der bedeutendsten deutschen Schriftsteller. Seine übersetzten Bücher werden in vielen Ländern der Erde gelesen.
Eine Reihe renommierter Preise haben sein literarisches Werk gewürdigt. Der liebste sei ihm der "Alemannische Literaturpreis" gewesen, sagt er, weil man ihn damit als "Heimatschriftsteller" ausgezeichnet habe. Jetzt wird Walser 95 Jahre alt. "Das Grandiose ist doch", sagte er anlässlich seines 90. Geburtstages über das Altern, "dass es ein völliges Neuland ist. Diese Lebensphase enthält Provokationen für einen, die man sich nie hat vorstellen können."
Literarische Heimat am Bodensee
Provoziert hat Walser oft, der Widerspruchsgeist wurde ihm quasi in die Wiege gelegt. Geboren am 24. März 1927, wuchs er als Sohn eines Gastwirts im 700-Seelen-Dorf Wasserburg am Bodensee auf. Seine Mutter, streng katholisch, spricht nur alemannisch und schlägt schon mal mit dem Kochlöffel zu, wenn ihre Buben nicht spuren. Walsers Vater, leidenschaftlicher Leser und Klavierspieler, stirbt früh, da ist Martin erst zehn Jahre alt. Die Mutter tritt 1932 in die NSDAP ein. Nazis sind gut zahlende Gäste.
Den Zweiten Weltkrieg erlebt Walser als Flakhelfer und Feldjäger bei der Wehrmacht. Darüber hat er ungern gesprochen, auch seine Zeit der Kriegsgefangenschaft bei den US-Amerikanern bleibt im Schatten. Mit Feuereifer stürzt sich Martin Walser 1947 in das Studium: Geschichte, Literaturwissenschaften und Philosophie haben es ihm angetan.
1949 wird er Reporter und Redakteur beim Süddeutschen Rundfunk, Abteilung "Kulturelles Wort". Dort hat er ungeahnte Freiheiten. "Mir sind die Funkhäuser ein bisschen verwunschen vorgekommen. Diese stillen Büros, diese ebenso stillen Gänge, die fast sakral wirkenden Studios mit den weißgekleideten Cutterinnen, die als Ministranten fungierten", schreibt er später.
Vorliebe für verkorkste Anti-Helden
Die "Frankfurter Rundschau" veröffentlicht seinen ersten Text. Der junge Walser verschafft sich mit kleinen Erzählungen Achtung unter den deutschen Schriftstellern. Er promoviert nebenbei mit einer Doktorarbeit über Franz Kafka. 1953 wird er als Mitglied in die legendäre Schriftstellervereinigung "Gruppe 47" aufgenommen. Sein Erstlingsroman "Ehen in Philippsburg" erhält 1957 wohlwollende Kritiken - und den Hermann-Hesse-Preis. Ein erster Erfolg.
Der politisch engagierte Schriftsteller, in den 1960er-Jahren prominentester Sympathisant der westdeutschen DKP, mischt sich gern vehement und wortgewaltig ein: gegen den Vietnamkrieg, gegen die Wiederbewaffnung, gegen den US-Imperialismus. Der Besuch eines Schriftsteller-Kongresses 1971 in Moskau kuriert ihn von seinen sozialistisch-kommunistischen Utopien. Im Wahlkampf unterstützt er daraufhin den SPD-Politiker Willy Brandt.
Martin Walser entwickelt einen literarischen Hang zu Anti-Helden. "Angeschmierte, Durchfaller, Angsthasen, Klammeraffen, Archivargemüter, geschlechtslose Käuze, Duckmäuser, Rechthaber, kleinlaute Großmäuler, verkorkste, dennoch rührende Gestalten", schreibt der Schriftsteller Joseph von Westphalen über Walsers Romanfiguren. 1978 veröffentlicht Walser seine bekannteste Novelle "Ein fliehendes Pferd", nach Ansicht vieler Kritiker eines seiner besten Bücher. Mit mehr als einer Million verkaufter Exemplare zugleich sein auflagenstärkstes Buch.
Plädoyer für die deutsche Einheit
Zu Beginn der 1980er-Jahre gerät Walser in Verdacht, eine "deutschnationale" Gesinnung entwickelt zu haben. Er plädiert in Aufsätzen und Interviews hartnäckig für die deutsche Wiedervereinigung, zieht damit den Zorn vieler Schriftsteller-Kollegen auf sich. Seinem Erfolg als Schriftsteller ist das nicht abträglich. Er erhält etliche renommierte Literaturpreise: den Georg-Büchner-Preis (1981), die Carl-Zuckmayer-Medaille (1990) und den Ricarda-Huch-Preis (1991) - und 1987 sogar das Große Bundesverdienstkreuz. Sein Name steht - zusammen mit seinem Schriftstellerkollegen Günter Grass - auch im Ausland für die gesellschaftskritische Literatur der Bundesrepublik Deutschland.
1998 wird Walser mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels ausgezeichnet. Bei seiner Dankesrede in der Frankfurter Paulskirche vertritt der streitlustige Autor eine radikale These: "Die Instrumentalisierung von Auschwitz" eigne sich nicht, als "Moral-Keule" eingesetzt zu werden. Die ständige Erinnerung an die Judenvernichtung der Nazis habe einen "gewissen Gewöhnungseffekt" bei ihm, formuliert Walser provozierend. Eine extrem kontroverse Debatte bricht in den deutschen Medien aus.
Noch heftiger sind die Reaktionen, als Martin Walser 2002 den Roman "Tod eines Kritikers" herausbringt. Die Hauptfigur trägt unverkennbar Züge des Literaturkritikers und Holocaust-Überlebenden Marcel Reich-Ranicki (1920 - 2013). Das Buch bringt Walser den Vorwurf des Antisemitismus ein: Die FAZ weigert sich, den umstrittenen Roman abzudrucken, Lesungen werden bundesweit boykottiert. Ignaz Bubis, damals Vorsitzender des Zentralrats der Juden in Deutschland, wirft Walser "geistige Brandstiftung" vor. Aber der öffentlich ausgetragene Streit verschafft dem Schriftsteller enorme Publizität. "Obwohl man einiges mitmacht, könnte ich mir keinen anderen Beruf vorstellen", schreibt er im Nachhinein.
Nimmermüde Produktivität
Der Skandal hat seinen literarischen Nachhall: In den Jahren danach beschäftigt sich Walser in seinen Texten viel mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und auch politischen Themen wie Verdrängung und Kontinuität nach 1945. Das sei er sich schuldig, sagte er in einem Interview mit der deutschen Wochenzeitung "Die Zeit". "Ich kann mir nicht kommandieren, was mir an Gedanken in den Kopf kommt. Ich kann allenfalls nachträglich Sätze ablehnen."
Der Bodensee ist immer noch sein Lebensmittelpunkt. Walser schreibt und arbeitet mit Blick auf den weiten See - Zeit seines langen Lebens für ihn Inspirations- und Entspannungsquelle. Spaziergänge am Ufer mit ausgewählten Journalisten und Fernsehteams gehören zu seinen Vorlieben. Auf diese Weise hat der berühmte Autor kräftig an seinem literarischen Mythos gebaut. "Schreiben ist nicht der Entschluss, etwas zu tun, sondern Lebensart. Basta", raunzte er in einem Interview mit dem Schweizer Magazin "Profil".
Martin Walser gehört - neben Günter Grass und Heinrich Böll - zu den im Ausland bekanntesten deutschen Schriftstellern. Mehr als 60 Bücher hat er geschrieben, nahezu jährlich veröffentlicht er ein neues Werk. Sein aktuellstes Buch erschien einen Tag vor seinem 94. Geburtstag: "Sprachurlaub" ist eine Sammlung von Augenblickstexten mit Aquarellen seiner Tochter Alissa. Hier liest er sich eher sanft und nachdenklich, setzt sich auch mit dem eigenen Ende auseinander: "Wühlt ein Tod in dir herum: So fühlt es sich an, aber den Tod gibt es nicht, so wenig wie das Leben. Nur Wörter, an die wir uns halten können in all der Leere." Angst davor scheint der Schriftsteller Walser nicht zu haben: "Ich wehre mich nicht, ich bin bedacht und will bis zum letzten Abend leben."
Dies ist eine aktualisierte Fassung des Artikels vom 24.03.2017.