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"Literaturpapst" wäre 95 geworden

Oliver Seppelfricke / Katrin Schlusen / GR2. Juni 2015

Er wurde berühmt durch lebhafte Debatten im Fernsehen und scharfe Kritik an der deutschen Gegenwartsliteratur. Der deutsche Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki wäre heute 95 Jahre alt geworden.

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Marcel Reich-Ranicki
Bild: picture-alliance/dpa

"Trete ich Ihnen zu nahe, wenn ich sage, dass Sie auch Entertainer sind?", wurde er provokant in seiner Sendung das Literarische Quartett gefragt. "Sie schmeicheln mir", antwortete Marcel Reich- Ranicki mit dem Brustton der Überzeugung. "Diese Kombination, Schulmeister und Entertainer, ist das Ideal des Kritikers!". Als er mit 68 Jahren in Rente ging, startete er noch einmal richtig durch. Im zweiten Deutschen Fernsehen moderierte er die Sendung "Das literarische Quartett" und machte Literatur einem Massenpublikum zugänglich. Am 2. Juni wäre der große Literaturkritiker, der 2013 verstarb, 95 Jahre alt geworden.

Ihm wurde oft der Beiname "Der Literaturpapst" gegeben. Er selbst mochte das nicht, denn unfehlbar wollte Marcel Reich-Ranicki nicht sein, wohl aber eine Autorität. Marcel Reich-Ranicki kam am 2. Juni 1920 in Wloclawek/Polen zur Welt. Der Vater war Kaufmann und Fabrikbesitzer. Nach dem Konkurs der Fabrik ging die jüdische Familie nach Berlin. In der Schule hatte er es schwer, weil sein Deutsch zunächst nicht perfekt war. "Ich war in der Schule ein Außenseiter", erinnerte er sich. "Ich hatte nie eine Heimat, meine Heimat war in den 30er Jahren das Dritte Reich, ich war bis Ende 1938 in Berlin. Da entstand eine Heimat für mich, das war die Literatur."

Polnisches Ehepaar rettete ihn vor dem Tod

Nach dem Abitur hätte er gerne deutsche Literatur studiert, doch die Nazis wiesen ihn aus. Ab 1940 lebte er im Warschauer Ghetto. Seine Eltern und sein Bruder wurden durch die Nazis ermordet. Im Ghetto lernte er seine Ehefrau Teofila kennen. Die beiden heirateten. Eine Ehe, die ein Leben lang - bis zum Tod seiner Frau 2011 - hielt. Über seine Rettung aus dem Warschauer Ghetto sagte Marcel Reich-Ranicki einmal: "Ich habe Menschen kennengelernt, die sich mir gegenüber wunderbar verhalten haben. Schließlich hat ein polnisches Ehepaar mich und meine Frau gerettet."

Nach dem Krieg war Reich-Ranicki polnischer Konsul in London. Nach seiner Rückkehr wurde er aus der Kommunistischen Partei, in die er mehr aus Dankbarkeit denn Überzeugung eingetreten war, ausgeschlossen. Das war die endgültige Wende zur Literatur. Reich-Ranicki wurde schon in Polen einer der angesehensten Literaturkritiker. Sein Spezialgebiet war deutsche Literatur. Als er 1958 zu Studienzwecken in Deutschland war, kehrte er nicht mehr nach Polen zurück. "Meine Arbeit war damals so wie heute die Literatur, die deutsche Literatur", sagte er 2001 rückblickend.

Marcel Reich Ranicki im Jahr 1966 (Quelle: picture-Alliance)
Marcel Reich-Ranicki 1966Bild: picture-alliance / IMAGNO/Nachlass Otto Breicha

Seine Lieblinge waren die deutschen Klassiker

Seine Leidenschaft war die deutsche Literatur. Er hat zahlreiche Bücher über sie geschrieben, hat unzählige Werke herausgegeben oder kommentiert, der deutsche Buchhandel kennt unter seinem Namen über hundert Einträge. Seine Lieblinge waren die großen Klassiker: Goethe, Heine, Kleist, Fontane und Thomas Mann.

Aber auch an der Literatur seiner eigenen Zeit fand Marcel Reich-Ranicki Gefallen. Wenn auch nur mäßigen. Als Literaturkritiker der Wochenzeitung "Die Zeit" und dann der Tageszeitung "FAZ" war er ihr ständiger wachsamer Begleiter. Von den Anfängen der "Gruppe 47" bis heute. Er war eine Art Übervater des Literaturbetriebs und wegen seines gelegentlich harschen und leidenschaftlichen Urteils geliebt und verhasst. Etwa mit seinem Verriss des Romans "Ein weites Feld" von Günter Grass im Magazin "Der Spiegel" im Jahr 1995 sorgte er für einen Literaturstreit. Heftige Debatten löste auch Martin Walsers Roman "Tod eines Kritikers" (2002) aus, der als eine Abrechnung mit Reich-Ranicki verstanden wurde.

Das Titelbild des Hamburger Nachrichtenmagazins Der Spiegel 34/1995 zeigt den Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki. (Foto: Der Spiegel)

Mit dem "Literarischen Quartett" feierte er große Erfolge: Bis zu zwei Millionen Zuschauer sahen sich diese Fernseh-Talkshow über Literatur an, in der zwar vorhersehbar, aber immer lebhaft und spannend über Bücher gestritten wurde. Marcel Reich-Ranicki liebte Streit und Diskussion. Seine persönlichen Attacken gegen Kollegin Sigrid Löffler sorgten 2000 für einen Eklat und das Ausscheiden der Kritikerin aus der Sendung. "Im Falle Reich-Ranickis war das Fernsehen als Eitelkeitsmaschine seines Daseins Glück und Unglück", schrieb Löffler 2002.

So sorgte er auch 2008 für großes Aufsehen, als er bei der Verleihung des Deutschen Fernsehpreises die Ehrung für sein Lebenswerk ablehnte. Er begründete die Ablehnung mit der schlechten Qualität des deutschen Fernsehens. Kritiker, zu denen auch Günter Grass gehörten, merkten an, dass er ohne das Medium nie so berühmt geworden wäre.

Den größten Erfolg erlebte er jedoch nicht als Herausgeber oder als Kritiker. "Ich habe einiges geschrieben, was ein Echo hatte", sagte er. Aber seine Memoiren, die er 1999 publizierte, hatten eine noch größere Resonanz: "Ich habe ein Buch geschrieben über mein Leben. Ganz einfach, was ich erlebt habe." Im April 2009 wurde ein Spielfilm über sein Leben im Warschauer Ghetto ausgestrahlt, der auf der Autobiografie basierte. Reich-Ranicki: "Das Echo dieses Buches, das war eine große Überraschung."

Tosia (Katharina Schüttler) und Marcel (Matthias Schweighöfer) sind in einer Szene des Films "Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben" den deutschen Soldaten entkommen (Foto: WDR/Thomas Kost)
Filmszene aus "Marcel Reich-Ranicki: Mein Leben"Bild: Bild: WDR/Thomas Kost