Marcel Reich-Ranicki ist 90
2. Juni 2010Das Schlimmste, was Marcel Reich-Ranicki schon immer über ein Buch sagen konnte, war: "Langweilig!". Und diese Negativwertung hat keineswegs nur den Schriftsteller Martin Walser tief verletzt, der bis heute mit Deutschlands berühmtestem Kritiker verfeindet ist. Die Liste der vom "Literaturpapst" vergrätzten Autoren-Stars ist lang. Rolf-Dieter Brinkmann sprach einst öffentlich davon, Reich-Ranicki am liebsten erschießen zu wollen. Alfred Andersch verglich ihn wenig schmeichelhaft mit Stalin. Und Friedrich Dürrenmatt fertigte eine berühmte Zeichnung mit dem Titel "Schädelstätte" an, wo der Bücher-Zensor aus Frankfurt auf einem Hügel mit abgeschlagenen Schriftsteller-Köpfen thront.
Anwalt der Leser, nicht der Autoren
"Es ist eher angebracht, einen Autor zu kränken, als Hunderttausende von Lesern zu betrügen", fasste Reich-Ranicki selbst einmal sein Berufscredo zusammen. Selbst beim späteren Nobelpreisträger Günter Grass nahm er kein Blatt vor den Mund und gab 1995 den literarischen Berserker, der den Roman "Ein weites Feld" medienwirksam auf dem SPIEGEL-Titelblatt zerriss. Doch so grausam Reich-Ranickis Verrisse auch waren, so enthusiastisch waren umgekehrt seine Lobeshymnen. Und damit hatte er großen Erfolg beim deutschen Lesepublikum.
Wichtigste Instanz im Literaturbetrieb
Als der leitende FAZ-Redakteur Reich-Ranicki 1988 das Medium wechselte und die Rolle des Chefkritikers in der Fernsehsendung "Das Literarische Quartett" übernahm, das bis 2001 insgesamt 77 Mal über den Bildschirm flimmerte, rückte er endgültig zur wichtigsten Instanz im deutschen Literaturbetrieb auf. Zusammen mit seinen Kollegen Helmut Karasek und Sigrid Löffler bestimmte der streitbare Büchernarr fortan maßgeblich, was die Nation las. Bestsellererfolge wie vom spanischen Autors Javier Marias ("Mein Herz so weiß") oder von der Berliner Generations-Chronistin Judith Hermann ("Sommerhaus, später") wären ohne Reich-Ranickis vehementen Zuspruch kaum denkbar gewesen, auch wenn seine Fernsehurteile streng genommen mit seriöser Literaturkritik wenig zu tun hatten.
Hopp oder Top
Ein schlechter Roman war und ist für Reich-Ranicki vor allem einer, der seine Leser nicht genügend fesselt. Experimentelle Literatur beäugte er darum von Anfang an skeptisch. Peter Handke schrieb ihm zu meditativ, Robert Musil zu weitschweifig. Dieses eher konventionelle Literaturverständnis verdankt sich wohl nicht zuletzt seiner leidvollen Lebensgeschichte als verfolgter Jude, der erst das Warschauer Ghetto und später die Deportationen nur wie durch ein Wunder überlebte. Der polnische Schriftsetzer Bolek Gawin versteckte Reich-Ranicki und seine Ehefrau Tosia damals vor den Nazis. Im Gegenzug hielt der Literaturliebhaber seinen Gönner Gawin mit Geschichten bei Laune: mit Dramen von Shakespeare, Schiller und Goethe.
Erzählen als Überlebensstrategie
Spannend erzählen, um zu überleben: das hat den späteren Kritiker Reich-Ranicki nachhaltig geprägt. Er spricht gern in Superlativen und Relativierungen mag er schon deshalb nicht, weil sie seiner Meinung nach jedem Text die Dramatik nehmen. Bei ihm geht es immer ums Ganze: um Erlösung oder Verdammnis. Ein Dazwischen gibt es kaum. Das konnte man zuletzt bei der Gala des Deutschen Fernsehpreises 2008 beobachten, als der Starkritiker in bewährter Streitlust den ihm zugedachten Ehrenpreis rundweg ablehnte und gleich mit einer wütenden Fundamentalkritik am deutschen Fernsehen verband.
Leidenschaftlicher Schwarz-Weiß-Prediger
In pragmatischen Zeiten, in denen ansonsten überall der Kompromiss regiert und immer mehr die ideologischen Fronten verschwimmen, ist Reich-Ranicki jemand, der die Welt immer noch strikt in Schwarz und Weiß einteilt, in gute und schlechte Literatur. Vielleicht macht ihn gerade das so beliebt beim deutschen Publikum. Und so gelang ihm zur Jahrtausendwende sogar etwas, was eigentlich als unverzeihlicher Tabubruch in seiner Branche gilt: Der Kritiker schrieb selbst ein dickes Buch. Und anders als die meisten Schreibversuche von anderen Kritikern wurde seine Autobiografie "Mein Leben" ein Bestseller und erfolgreich verfilmt.
Autorin: Gisa Funck
Redaktion: Gabriela Schaaf