Martin Walser: Letzte Wahrheiten
5. Januar 2017Kaum zu glauben! Während weitaus jüngere Autoren regelmäßig von Schreibblockaden heimgesucht werden und lange auf ihre literarischen Meisterwerke warten lassen, bringt Martin Walser fast im Jahresrhythmus ein neues Buch heraus. Auf den Wüterich vom Bodensee ist Verlass. Weiterleben heißt für ihn: Weiterschreiben. Im März wird er 90 Jahre alt und sein neuer Roman variiert noch einmal alle Themen aus dem Walser'schen Universum - Einsamkeit, Liebe, Glaube.
"Statt etwas oder Der letzte Rank", so der kryptische Titel, ist ein einziger Monolog der Selbstvergewisserung. Walser schert sich nicht um eine wirkliche Romanhandlung. Stattdessen gibt es in 52 Kapiteln einen formlosen Gedankenfluss - die letzten Wahrheiten.
"Dass ich noch Sätze brauchte, war kein gutes Zeichen. Erstrebenswert wäre gewesen: Satzlosigkeit. Ein Schweigen, von dem nicht mehr die Rede sein müsste."
Müde vom Leben
Hier schreibt ein Erschöpfter, müde vom Leben. Walser mäandert durch seine Unsicherheiten. Scheinbar sind in seinen Augen alle talentierter, erfolgreicher, glücklicher als er. Niemand leidet mehr unter ihm als er selbst.
"Wenn er sich vorbereitete, den Fehler, den er das letzte Mal gemacht hat, zu vermeiden, passierte ihm ein ganz neuer Fehler. […] Er schien einfach einen unerschöpflichen Vorrat von höchst persönlichen Fehlern zu haben."
Doch Walser ist ein Meister darin, sich entblößend zu verbergen. In Wahrheit schwingt in seinen Sätzen die pure Verachtung für all jene Erfolgreichen mit, die er zu bewundern scheint. Und hinter seinem detailgenau ausgebreiteten Hadern spürt man die Koketterie eines immer noch sehr eitlen Schriftstellers.
"Bitte, wie stark musste ich sein, um mich so schwach nennen zu können!"
Gegen das Vergessen
Doch irgendwie ist die Lebenslust und die Streitfreude verloren gegangen. Keine Spur mehr von dem virilen Provokateur von einst. In den 1950er Jahren wurde Walser zusammen mit Günter Grass und Siegfried Lenz zum Kraftzentrum der literarischen Aufarbeitung. Autoren der "Gruppe 47" schrieben an gegen das Vergessen im Nachkriegsdeutschland.
Sie zeigten den Dreck hinter dem Glanz des Wirtschaftswunders. Walser verachtete zutiefst jene Saubermänner der Zeit, die ohne große Blessuren von der Nazi-Diktatur ins demokratische Nachkriegsestablishment glitten. Er setzte mit seinen Büchern dem schwankenden Kleinbürger, der immer wieder an den eigenen Ansprüchen scheitert, ein literarisches Denkmal.
Mein liebster Feind
Auch in seinem neuen Buch echauffiert er sich über diese aalglatten Mitläufer. Es scheint, als würde Walser hier noch einmal all seine liebsten Feinde Revue passieren lassen. Jene Journalisten, die ihn öffentlich demontierten, weil er 1998 bei seiner Dankesrede für den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels von der "Moralkeule" Auschwitz sprach. Bis heute schmerzt ihn das gewaltig.
In Walsers neuem Werk darf auch er natürlich nicht fehlen: Marcel Reich-Ranicki, ohne Name, aber doch für alle erkennbar. Der legendäre Literaturkritiker und er arbeiteten sich ein Leben lang ab an ihrer gegenseitigen Abneigung.
"Er hatte unter mir zu leiden, das musste er mir übelnehmen. Es gehörte zum Seelenhaushalt eines jeden Feindes, dass er regelmäßig durch Aussagen seine Feindschaft gegen mich am Leben erhielt."
Pathos und Pose
Was wäre ein Walser-Buch ohne den erotischen Subtext? Das Verlangen zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau zieht sich wie ein roter Faden durch sein Œuvre und durch dieses Buch. Doch was einst lustvoll daherkam, ist heute ein müder, bisweilen grotesker Exkurs über die Anziehungskraft von Brüsten.
Kann man darüber hinweg sehen? Man muss! Denn zwischen all den altherrenhaft-zotigen Abschnitten, blitzt jene Sprachvirtuosität auf, für den Martin Walser bis heute gefeiert wird. Jener Walser'sche Ton, den man überall sofort erkennt: präzise, nachdenklich, geprägt von Pathos und manchmal leider auch Pose.