Schwieriger Besuch: Scholz trifft sich mit Erdogan
18. Oktober 2024Angespannt und belastet oder vertrauensvoll und solide? 100 Jahre nach der Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei ist es fast unmöglich, das Verhältnis zwischen den beiden Ländern auf einen Punkt zu bringen. Fragt man den Politikwissenschaftler Jens Bastian vom Centrum für angewandte Türkei-Studien CATS, dann spricht er von "zahlreichen Schattierungen", die das Bild prägten. "Es ist auch nicht alleine auf der Ebene von Regierungseliten in Ankara und Berlin zu beschreiben. Die türkische Community in Deutschland ist ein wichtiger Faktor in den bilateralen Beziehungen, ob politisch, wirtschaftlich, kulturell oder im Sport", analysiert Bastian gegenüber der DW.
Deutschland gilt seit Jahren als der wichtigste Handelspartner der Türkei und der wichtigste ausländische Investor in diesem Land. In der Bundesrepublik leben mehr als drei Millionen Menschen mit türkischem Migrationshintergrund. "Wirtschaftsverbände und einzelne Unternehmen engagieren sich, der kommunalpolitische Austausch im Rahmen von Städtepartnerschaften funktioniert", so Bastian.
Misstöne auf höchster politischer Ebene
Ganz anders sieht die Lage auf der Regierungsebene aus. Rückblick: Anfang Juli 2024 saß der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan einen Abend lang in Berlin auf der Zuschauertribüne bei der Fußball-Europameisterschaft. Bundeskanzler Olaf Scholz ließ sich nicht blicken.
Wohl auch, weil der Abstecher Höhepunkt eines diplomatischen Eklats war. Ein türkischer Nationalspieler hatte auf dem Spielfeld den "Wolfsgruß" gezeigt, das Erkennungssymbol der rechtsextremistischen "Ülkücü-Bewegung". Der politische Arm der Bewegung, die MHP, sitzt nicht nur im türkischen Parlament, sondern ist dort auch Bündnispartner der AKP von Präsident Erdogan.
Meinungsverschiedenheiten - vor allem zu Israel
Mehrere deutsche Politiker reagierten empört auf den "Wolfsgruß". Botschafter wurden einbestellt, die Türkei warf Deutschland Ausländerfeindlichkeit vor. Erdogan flog spontan nach Berlin, um beim nächsten Spiel der türkischen Mannschaft Präsenz zu zeigen.
Misstöne gab es auch schon vorher. Beim Besuch im Kanzleramt - der 7. Oktober mit dem Überfall der Hamas auf Israel lag nur wenige Wochen zurück - bezog Erdogan offen Position gegen Israel. Schon vorher hatte er dem Land "Faschismus" und "Kriegsverbrechen" vorgeworfen.
Der Nahe Osten ist und bleibt ein kontroverses Thema
Olaf Scholz musste sich anhören, wie sein Gast die Hamas als "Befreiungsorganisation" bezeichnete und Deutschland eine "Schuldpsychologie" gegenüber Israel attestierte.
Scholz blieb ruhig. Zu ruhig, wie Kritiker im Nachhinein urteilten. "Dass wir zu dem aktuellen Konflikt unterschiedliche, zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen haben, ist ja kein Geheimnis", erwiderte der Kanzler. Deshalb müsse man reden. "Gerade in schwierigen Augenblicken brauchen wir das direkte Gespräch miteinander."
Deutschland und die Türkei brauchen sich
Am 19. Oktober werden die beiden Regierungschefs sich nun in Istanbul treffen. Gesprächsstoff gibt es reichlich, davon ist die Politikwissenschaftlerin Hürcan Asli Aksoy überzeugt. "Trotz der gegensätzlichen Positionen im Nahost-Konflikt gibt es in vielen anderen Bereichen gemeinsame Interessen zwischen Ankara und Berlin", analysiert die CATS-Leiterin auf Anfrage der DW. "Letztlich brauchen beide Seiten einander - politisch, wirtschaftlich und auch gesellschaftlich."
Ein Sprecher der Bundesregierung nennt als Themen, die auf dem Tisch liegen, Migration, den Krieg in der Ukraine, sowie wirtschaftspolitische Fragen. Die Türkei spielte eine große Rolle, um wieder ukrainische Getreidelieferungen über das Schwarze Meer auf den Weltmarkt zu ermöglichen. Seit Wochen ist nun im Gespräch, eine internationale Kontaktgruppe zu gründen, um Wege zur Beendigung des Krieges zwischen Russland und der Ukraine zu suchen. Auch die Türkei soll mit dabei sein.
Die Bundesregierung hat wiederholt darauf hingewiesen, dass die Türkei in die europäische Sanktionspolitik gegen Russland eingebunden sein müsse. Das findet auch Jens Bastian wichtig. "Diese Konditionalität sollte von Kanzler Scholz auch klar angesprochen werden, wenn Präsident Erdogan etwa eine Modernisierung der Zollunion zwischen der EU und der Türkei anstrebt."
Asyl-Deal zwischen Berlin und Ankara?
Beim Thema Migration wird Scholz sicherlich die Frage ansprechen, wie mehr abgelehnte türkische Asylbewerber in die Türkei abgeschoben werden können. Bei den Herkunftsländern von Asylbewerbern belegt die Türkei den dritten Platz hinter Syrien und Afghanistan.
Die meisten Ablehnungen beträfen Kurden, sagt Politikwissenschaftlerin Hürcan Asli Aksoy. "Es ist von einem Asyl-Deal zwischen Berlin und Ankara die Rede. Bis zu 500 Schutzsuchende könnte so pro Woche abgeschoben werden." Offizielle Bestätigungen dafür gibt es von türkischer Seite allerdings nicht. Bundesinnenministerin Nancy Faeser sagte kürzlich zu Abschiebungen: "Wir arbeiten daran, und ich bin mir sicher, dass wir in den nächsten Wochen dort Erfolge vermelden können."
Griechenland und die Türkei kooperieren an der Grenze
Das Flüchtlingsabkommen, das die EU im März 2016 mit Ankara geschlossen hatte, wird nach Ansicht von Politikwissenschaftler Jens Bastian in Zukunft keine große Rolle mehr spielen. Im Kern sah es vor, dass Asylsuchende, die irregulär über die Türkei nach Griechenland gelangten, in die Türkei zurückgeführt werden konnten. Die EU hat Ankara inzwischen fast zehn Milliarden Euro für die Versorgung von Flüchtlingen in der Türkei gezahlt. 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge leben dort.
Zwar versuchen weiterhin Migranten und Flüchtlinge, nach Griechenland zu gelangen, die Zahlen haben aber abgenommen. Bastian führt das darauf zurück, dass die Grenzbehörden der Türkei und Griechenlands inzwischen bilateral kooperieren. "Insgesamt scheint mir in den Migrations- und Flüchtlingsfragen der Fokus auf bilaterale Vereinbarungen zu liegen, statt ein neues "Türkei-Abkommen" auf EU-Ebene auszuhandeln."
Die Türkei will Eurofighter kaufen
Ein Thema, das bei dem Treffen von Scholz und Erdogan ganz sicher eine Rolle spielen wird, ist der Rüstungsexport. Die Türkei möchte ihre Luftwaffe mit 40 Kampfjets vom Typ Eurofighter modernisieren. Da sie von Deutschland, Spanien, Großbritannien und Italien produziert werden, müssen alle vier Staaten einem Kauf zustimmen. Bislang haben aber nur Spanien und Großbritannien grünes Licht gegeben.
"Unser NATO-Verbündeter Deutschland muss natürlich auch mit entschlossenen Schritten vorangehen, wenn wir beispielsweise von Rüstungsgütern, der Industrie und dem Export sprechen", sagte Erdogan schon Ende 2023 in Berlin. "Das muss ungehindert möglich sein." Scholz hatte das aber abgelehnt.
Wieder Waffenexporte in die Türkei
Deutsche Rüstungsexporte in die Türkei waren 2019, nach der türkischen Militäroffensive in Nordsyrien, deutlich eingeschränkt worden. Inzwischen soll die Regierung von ihrem restriktiven Kurs abweichen. Das Nachrichtenmagazin Spiegel berichtet von im September 2024 genehmigten Waffenlieferungen im Wert von mindestens 236 Millionen Euro. Darunter auch Flugabwehrraketen und Torpedos.
Politikwissenschaftlerin Hürcan Asli Aksoy geht davon aus, dass Deutschland nun auch grünes Licht für die Eurofighter gibt. "Nun scheinen sich beide Regierungen in vielen rüstungspolitischen Punkten angenähert zu haben, so dass die Türkei doch noch die europäischen Kampfjets erhält." Die Bundesregierung hält sich im Vorfeld bedeckt. Er könne den Gesprächen nicht vorgreifen, sagte ein Regierungssprecher. "Aber selbstverständlich können Sie bei einem Besuch des Bundeskanzlers beim türkischen Staatspräsidenten allgemein immer etwas Neues erwarten."