Türkei: Wohin führt die Provokation mit dem Wolfsgruß?
15. Juli 2024Politik auf dem Spielfeld? Bei der EM 2024 versuchten einige türkische Fans, Fußballer und der türkische Präsident Erdogan, sich politisch zu profilieren. Nicht allen in der türkischen Community in Deutschland gefällt das.
Dies zeigt die hitzige Debatte, die der Wolfsgruß des türkischen Nationalspielers Merih Demiral nach seinem Tor beim Spiel gegen Österreich am 2. Juli ausgelöst hat.
Unmittelbar nach der Geste stellte der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland klar: "Politische Symbole haben auf dem Fußballfeld keinen Platz", erklärte Gökay Sofuoglu gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland RND.
"Schaden für deutsch-türkische Freundschaft"
Auch Macit Karaahmetoglu, Sprecher der SPD-Bundestagsfraktion in der Deutsch-Türkischen Parlamentariergruppe positioniert sich klar: Wer mit dem Wolfsgruß provozieren wolle, schade der deutsch-türkischen Freundschaft.
"Dass die vermutlich unbedachte Geste eines eigentlich liberal eingestellten Fußballspielers durch die Politik instrumentalisiert wird, überrascht nicht weiter", sagt der Abgeordnete der DW gegenüber. Erdogan nutze solche Ereignisse, um Deutschland als fremdenfeindlich darzustellen.
Karaahmetoglu kritisiert auch gewisse Kreise in Politik und Öffentlichkeit in Deutschland. "Diese nutzen solche Gelegenheiten, um pauschale Stimmung gegen Deutschtürken zu machen und ihre Integration in Frage zu stellen."
Rechtsextrem und nationalistisch
Extremismusforscher Prof. Kemal Bozay vom Zentrum für Radikalisierungsforschung und Prävention an der Internationalen Hochschule Köln sieht im Wolfsgruß eine politische Machtdemonstration.
"Erstens ist er das Symbol der rechtsextremen Ülkücü-Bewegung ("Graue Wölfe" Bewegung, Anm. d. Red.). Zweitens Ist er das Symbol der Partei der Nationalistischen Bewegung (MHP)", so Bozay.
Dieser Gruß werde oft bei Großveranstaltungen und beim Skandieren von Parolen genutzt, um nationalistische und rechtsextreme Botschaften zu verbreiten. Des Weiteren spiele dieser Gruß auch bei der Mobilisierung eine wichtige Rolle.
Zwar sei die Wolfsmythologie in der türkischen Geschichte weit verbreitet, räumt er ein. Die Deutungshoheit sieht er jedoch schon seit vielen Jahrzehnten bei den Rechtsextremen.
Diskriminierte Minderheiten
Die Türkei ist ein ethnisch, kulturell und religiös vielfältiges Land. Dementsprechend leben unter den Türkeistämmigen in Deutschland und Europa Kurden, Aleviten, Armenier, Jesiden, Aramäer, Araber, und auch Pontosgriechen und Italiener.
In der offiziellen türkischen Geschichte kommen diese Minderheiten oft als Feind oder Verräter vor. Daher trägt die Vielfalt der türkischen Community auch ein großes Konfliktpotenzial in sich, was sich im Wolfsgruß abermals gezeigt hat.
"Ich bin stolz, ein Türke zu sein. Wenn man Türke ist, führt man nicht nur einen Krieg gegen ein Land, sondern gegen die ganze Welt." Diese Äußerung stammt von dem deutsch-türkischen Nationalspielers Cenk Tosun, der bei der EM für die Türkei auflief.
Der Vorsitzende der Kurdischen Gemeinde Ali Ertan Toprak reagierte empört. Fußball sei kein Krieg, sondern Völkerverständigung.
"Der Nationalspieler Tosun denkt anscheinend, er sei kein Fußballer, sondern ein Soldat", sagt Toprak im Interview mit der DW.
Graue Wölfe und türkische Identität
Ankara weist die Kritik am Wolfsgruß zurück und verteidigt ihn als Zeichen des Türkentums. Dies ist keine Überraschung, denn Erdogan regiert seit 2016 mit der Unterstützung der "Grauen Wölfe".
Laut Bundesamt für Verfassungsschutz ist die MHP die Urorganisation der "Grauen Wölfe". Ebenso Partner von Erdogan ist die islamistisch-ultrarechte BBP, der viele politische Morde in der Türkei zugeschrieben werden.
Das Thema türkische Identität ist laut Konfliktforscherin Sezer Idil Gögüs vom Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) ein fester Bestandteil von "Erdogans Diasporapolitik".
Diese basiere darauf, Auslandstürken eng an die türkische Politik anzubinden. Denn Auslandswähler seien für Erdogan und seine Partei AKP sehr wichtig.
Konflikte in der Diaspora
Erdogans Besuch beim Spiel gegen die Niederlande am 6. Juli im Berliner Olympiastadion habe deshalb innenpolitisch eine wichtige Bedeutung gehabt. Die Türkei verlor das Spiel mit 2:1.
In Westeuropa leben nach Angaben des Amts für Auslandtürken 5,5 Millionen Türkeistämmige, darunter knapp drei Millionen in Deutschland.
"Konflikte, Krisen und Erfahrungen im Herkunftsland wirken sich auf die Community in der Diaspora aus. Diese werden ins Ausland mitgenommen. Der Konflikt zwischen manchen türkischen und kurdischen Gruppen in Deutschland ist ein Beispiel dafür", weiß Konfliktforscherin Sezer Idil Gögüs.
Man dürfe diese Konflikte nicht als Minderheitenprobleme ansehen. "Es reicht nicht aus, den Wolfsgruß als Zeichen der Türkei abzutun und alles andere auszublenden", sagt sie. Es müsse begriffen werden, welche Bedeutung diese Geste für andere Gruppen aus der Türkei bedeutet."
Im Hinblick auf Kurden, Aleviten, Armenier und anderen warnt sie: "Wenn einer Gruppe Menschenrechtsverletzungen widerfahren ist, und die andere Seite diese ignoriert oder für nichtig erklärt, führt dies zu weiteren Auseinandersetzungen."
Extremismusforscher Bozay stimmt zu. Er sieht auch eine gewisse Verantwortung für die Eskalation der Debatte bei der deutschen Politik. Seiner Meinung nach wurde türkischer Rechtsextremismus in Deutschland zu lange vernachlässigt und als "Auslandsextremismus" abgetan.