Deutschland-Türkei: 100 Jahre diplomatische Beziehungen
23. April 2024Der deutsche Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier ist auf Staatsbesuch in der Türkei, dem ersten dort seit Beginn seiner Amtszeit 2017. Der Zeitpunkt des Besuchs ist kein Zufall. Er erinnert auch an die Aufnahme diplomatischer Beziehungen zwischen beiden Ländern vor hundert Jahren.
Sowohl die Türkische Republik als auch das Deutsche Reich hatten damals 1924 einen tiefgreifenden Neuanfang hinter sich: Beide Staaten hatten nach dem Ersten Weltkrieg als Verbündete auf der Verliererseite gestanden, mussten infolgedessen Gebiete abtreten – die Türkei verlor sogar ein Großreich - und beide hatten die Monarchie abgeschafft. In Deutschland trat die Weimarer Republik an die Stelle des Kaiserreichs.
Der innere Wandel in der Türkei war aber noch deutlich größer: Staatsgründer Kemal Atatürk wollte eine säkulare, europäisch orientierte Türkei. Kalifat und Scharia aus der Zeit des Osmanischen Reiches wurden durch westliche Rechtssysteme ersetzt.
Auch die beiden Vorgängerstaaten, das Osmanische Reich und das Deutsche Kaiserreich, hatten schon enge diplomatische, militärische und Handelsbeziehungen unterhalten. Jetzt, wenige Monate nach Gründung der Türkischen Republik 1923, knüpfte man diplomatisch dort wieder an und schloss einen Freundschaftsvertrag.
Doch besonders ernst nahm Berlin das damals nicht, meint der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz: "Trotz der Wiederaufnahme 1924 maß die krisengeschüttelte Weimarer Republik den diplomatischen Beziehungen zur jungen Republik Türkei bis in die 1930er-Jahre keine hohe politische Bedeutung zu", schreibt er der DW. Aber "das hohe Ansehen Deutschlands in der Türkei blieb davon unberührt".
Türkei: Zufluchtsstätte für Verfolgte des Nazi-Regimes
Ein heute oft vergessenes Kapitel in den deutsch-türkischen Beziehungen war das Exil von mehreren hundert verfolgten Deutschen während der Zeit des Nationalsozialismus in der damals außenpolitisch neutralen Türkei.
"Die Türkei unter Atatürk wurde zur Zufluchtsstätte für viele verfolgte Akademiker. Die türkische Republik bedurfte hochqualifizierter Kräfte", so Rasim Marz. Der SPD-Politiker und spätere Berliner Bürgermeister Ernst Reuter war darunter, der Wirtschaftswissenschaftler und Politiker Fritz Baade, der Komponist Paul Hindemith und viele andere. Sie "waren am weiteren Ausbau des Staates nach europäischem Vorbild maßgeblich beteiligt".
Türkische Migranten in Deutschland
Wohl keine Entscheidung hat die Beziehungen bis heute so nachhaltig geprägt wie der Abschluss eines Anwerbeabkommens für türkische Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland 1961. Nach Angaben des Auswärtigen Amtes kamen in der Folge etwa 876.000 Menschen aus der Türkei. Sie arbeiteten zum Beispiel im Bergbau, in der Autoindustrie, eröffneten Geschäfte. Viele holten ihre Familien nach und blieben für immer. Heute leben in Deutschland rund drei Millionen Menschen mit türkischen Wurzeln.
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ihre Leistung gleich zu Beginn seines Türkei-Besuchs gewürdigt, und zwar an einem historischen Ort: Am Istanbuler Bahnhof Sirkeci bestiegen viele der angeworbenen Türken die Züge Richtung Deutschland. "Sie haben unser Land mit aufgebaut, sie haben es stark gemacht und sie gehören ins Herz unserer Gesellschaft", sagte Steinmeier.
Verschlechterung der Beziehungen unter Erdogan
Seitdem Recep Tayyip Erdogan Präsident der Türkei ist, haben sich die Beziehungen zunehmend verschlechtert. Vor allem nach einem Putschversuch 2016 ging Erdogan hart gegen politische Gegner vor. Die Bundesregierung hat die Menschenrechtslage in der Türkei wiederholt angeprangert; immer wieder wurde der deutsche Botschafter einbestellt. Es ist ein Zeichen für die Spannungen, dass vor dem jetzigen Besuch zehn Jahre lang kein deutscher Bundespräsident mehr in der Türkei war.
Erdogan verwandelt das Land auch außenpolitisch – und trifft damit nach Meinung von Rasim Marz einen Nerv bei seinen Landsleuten: "Die Türkei unter Präsident Erdogan strebt seit zwei Jahrzehnten danach, das Land unter die führenden Nationen der Welt zu führen. Sowohl in der akademischen wie politischen Elite des Landes, unter Militärs oder Wirtschaftsmagnaten, ob aus dem Regierungslager oder der Opposition - die Vision einer politischen wie militärischen Großmacht Türkei im 21. Jahrhundert hat sich in der Gesellschaft verfestigt."
Für Erdogan ist die Hamas eine Befreiungsorganisation
Besonders brisant für die deutsche Politik ist Erdogans Haltung zur islamistischen Hamas im Gazastreifen. Erdogan hat das Massaker der Hamas vom 7. Oktober an Israelis verteidigt, bezeichnet die Hamas als Befreiungsorganisation. Dagegen ist die Sicherheit Israels – bei aller deutscher Kritik an Israels Vorgehen im Gazastreifen – offizielle deutsche "Staatsräson". Wie zur Bekräftigung der Gegensätze traf sich Erdogan kurz vor Steinmeiers Ankunft mit Hamas-Auslandschef Ismail Hanija.
Auch während seines Besuchs in Istanbul sah sich der Bundespräsident mit Demonstranten konfrontiert, die gegen die deutsche Israel-Politik protestierten.
Die EU-Beitrittsverhandlungen mit der Türkei sind eingefroren
Die deutsch-türkischen Beziehungen sind längst eingebettet in die Beziehungen der Türkei zu gesamten EU. Zwar ist die Türkei seit 2005 EU-Beitrittskandidat, unterstützt zuvor vom SPD-Bundeskanzler Gerhard Schröder. Doch faktisch liegen die Beitrittsverhandlungen längst auf Eis, auch das eine Folge von Erdogans hartem innen- und außenpolitischem Kurs.
Bundeskanzlerin Angela Merkel war gegenüber der Türkei relativ vorsichtig aufgetreten, auch weil sie Ankara in der Flüchtlingskrise 2015/16 dringend brauchte. Die Politiker der amtierenden SPD-geführten Bundesregierung unter Kanzler Olaf Scholz nennen die Probleme deutlicher beim Namen, nicht zuletzt die grüne Außenministerin Annalena Baerbock.
Das komme bei der türkischen Führung nicht gut an, meint Rasim Marz: "Deutschland hat nach der Ära Angela Merkel erheblichen Einfluss in Ankara verloren. Die Dissonanzen zwischen den beiden Ländern, die während des letzten Besuchs von Außenministerin Annalena Baerbock (im Juli 2022) offen zu Tage traten, sind auf unterschiedlichen Themengebieten tiefgehend." Auch eine Neubelebung der EU-Beitrittsverhandlungen "ist aktuell nicht absehbar", glaubt der Historiker und Türkei-Experte Rasim Marz.
Ein neuer Anfang?
Die Hoffnung der Bundesregierung liegt auf der türkischen Zivilgesellschaft und der türkischen Opposition. Bei den Kommunalwahlen vor wenigen Wochen erlitt Erdogans Partei AKP eine Schlappe. Stattdessen triumphierte landesweit die größte Oppositionspartei CHP. Deren großer Hoffnungsträger, auch als möglicher künftiger Staatspräsident, ist der Istanbuler Bürgermeister Ekrem Imamoglu.
Der Bundespräsident hat ihn bei seinem Besuch noch vor Erdogan getroffen. Ein Zeichen, dass man in Berlin auf einen politischen Wandel und weiteren Neuanfang in den türkisch-deutschen Beziehungen hofft.