Der Krieg lässt Deutschland aufrüsten
27. Februar 2022Es war ein besonderer Tag im Deutschen Bundestag. Noch nie ist das Parlament an einem Sonntag zusammengetreten. An zwei Seiten des Reichstagsgebäudes waren ukrainische Flaggen gehisst. Auf der Ehrentribüne verfolgte der ukrainische Botschafter Andrij Melnyk die Regierungserklärung von Bundeskanzler Olaf Scholz und die sich anschließende Aussprache. Abgesehen von den Abgeordneten der AfD begrüßten die Parlamentarier Melnyk stehend mit langem Applaus, der neben ihm sitzende Altbundespräsident Joachim Gauck umarmt den Ukrainer sichtlich gerührt.
Es war eine emotionale Debatte. Die "Skrupellosigkeit Putins, die himmelschreiende Ungerechtigkeit, der Schmerz der Ukrainerinnen und Ukrainer", das alles gehe sehr nahe, sagte Kanzler Scholz. Am 24. Februar habe Russland einen "kaltblütigen Angriffskrieg" begonnen, der "menschenverachtend und völkerrechtswidrig" sei und der eine "Zeitenwende in der Geschichte unseres Kontinents" markiere.
Waffen für die Ukraine und Geld für die Bundeswehr
Ein Krieg, der die Bundesregierung in ihrer bisherigen Außen- und Sicherheitspolitik umdenken lässt. Schon am Samstag hatte Scholz zentrale Positionen revidiert. Nachdem sich Deutschland lange geweigert hatte, werden nun doch Waffen in die Ukraine geliefert - unter anderem 1000 Panzerabwehrwaffen und 500 Flugabwehrraketen. "Auf Putins Aggression konnte es keine andere Antwort geben", betonte der Bundeskanzler.
Im Bundestag kündigte Scholz zudem die Aufrüstung der Bundeswehr an. Ein mit 100 Milliarden Euro ausgestattetes "Sondervermögen Bundeswehr" soll eingerichtet werden. Damit ist ein vom Bundeshaushalt abgetrennter Etat gemeint, der einmalig aufgestellt und über zusätzliche Kredite finanziert wird. Im Gegensatz zum jährlichen Haushalt, dessen vom Bundestag bewilligte Ausgaben am Ende eines Jahres verfallen, ist ein Sondervermögen weder an zeitliche Befristungen gekoppelt, noch geht es in die Schuldenquote des Landes ein.
Finanzielle Selbstverpflichtung in der Nato wird künftig eingehalten
Die 100 Milliarden Euro sollen für Investitionen und Rüstungsvorhaben genutzt werden. Wichtig sei, dass Europa auch technologisch mithalte und die nächste Generation von Kampfflugzeugen und Panzern gemeinsam mit europäischen Partnern wie Frankreich baue. "Diese Projekte haben oberste Priorität für uns", betonte der Kanzler und erklärte, dass Deutschland "von nun an - Jahr für Jahr - mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts in unsere Verteidigung investieren" werde.
Eine weitere Kehrtwende, denn Deutschland hatte die Selbstverpflichtung der Nato-Staaten, zwei Prozent der Wirtschaftsleistung für Sicherheit auszugeben, in der Vergangenheit stets deutlich unterschritten. Auch im Koalitionsvertrag der Ampel-Parteien SPD, Grüne und FDP steht vom Nato-Ziel nichts. Die Bundesregierung plant nun sogar, das Sondervermögen für die Bundeswehr im Grundgesetz zu verankern, um sicherzustellen, dass das Geld nicht irgendwann für andere Ziele verwendet werden kann.
Lichterketten allein bringen keinen Frieden
Doch dafür braucht die Regierung die Mitwirkung der Opposition, da Grundgesetzänderungen nur mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit des Parlaments möglich sind. Friedrich Merz, Chef der oppositionellen Unionsfraktion, unterstützt die Aufrüstung der Bundeswehr. Mit Moral allein werde die Welt keine bessere. "Lichterketten, Friedensgebete, Ostermärsche sind eine schöne Sache. Aber mit Moral allein wird die Welt um uns herum nicht friedlich."
Deutschland müsse "endlich bereit sein, in dieser Welt seine Interessen zu definieren und vor allem bereit sein, diese Interessen auch durchzusetzen. Dazu zählt nicht nur, aber auch die Fähigkeit, das eigene Territorium und die eigene Bevölkerung wirksam gegen jedwede Form der Gewalt und der Nötigung zu schützen und zu verteidigen", sagte Merz im Bundestag.
Bundeswehr wegen langjähriger Einsparungen "blank"
Doch der Unions-Chef hat mit Blick auf die enorme Summe von 100 Milliarden Euro auch Bedenken. Die Ertüchtigung der Bundeswehr könne nicht "an einem Sonntagmorgen in einer Regierungserklärung" beschlossen werden. "Ein Sondervermögen sind zunächst einmal neue Schulden." Darüber müsse man in Ruhe und im Detail sprechen. Auch mit der jungen Generation, zu deren Lasten die Schulden aufgenommen würden.
Die Union ist bei diesem Thema in einer Zwickmühle. Von 2005 bis 2021 stellten entweder die CDU oder die CSU die Verteidigungsminister. In dieser Zeit bekam die Bundeswehr immer weniger Geld. Heeresinspekteur Alfons Mais klagte vor ein paar Tagen, die Truppe stehe "blank" da. Wenn die Union die Einrichtung des Sondervermögens mittrage, werde man im Gegenzug nicht "mit dem Finger auf die zeigen", die die Versäumnisse zu verantworten hätten, versprach FDP-Bundesfinanzminister Christian Lindner im Bundestag.
Kritik an Aufrüstung nicht nur von der Opposition
Mehr Geld für die Bundeswehr und Waffenlieferungen in ein Kriegsgebiet - nicht alle Abgeordneten wollen das mittragen. Die Fraktionschefin der Linkspartei, Amira Mohamed Ali, räumte zwar ein, "dass wir die Absichten der russischen Regierung falsch eingeschätzt haben". Putin sei der Aggressor und die Linkspartei stehe geschlossen an der Seite der Ukraine. Aber die Folge könne jetzt nicht sein, dass aufgerüstet werde. "Hochrüstung und Militarisierung werden wir nicht unterstützen", so Mohamed Ali.
Die Abkehr von einer rein defensiven Außen- und Sicherheitspolitik fällt aber auch in der SPD und bei den Grünen vielen schwer. Die Grünen sind aus der Friedensbewegung der 1970er Jahre erst entstanden und bei den Sozialdemokraten gibt es viele Anhänger der Ost- und Entspannungspolitik unter dem damaligen Bundeskanzler Willy Brandt.
Skeptiker mit Zurückhaltung beruhigen
Die grüne Außenministerin Annalena Baerbock betonte im Bundestag daher, dass die Regierung in ihrer Waffenexport-Politik "weiter aus tiefster Überzeugung zurückhaltend" sein werde. Angesichts "des brutalen Angriffs" dürfe man die Ukraine aber "nicht wehrlos dem Aggressor überlassen, der Tod und Verwüstung über dieses Land bringt".
Baerbock verteidigt in ihrer Rede außerdem das lange Zögern beim nun doch vereinbarten Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen westlichen Zahlungssystem Swift. Man habe diese Entscheidungsorgfältig und zielgerichtet vorbereiten müssen. "Wir müssen sicherstellen, dass uns nach drei Monaten nicht die Puste ausgeht", sagte sie. Die Sanktionen müssten "das System Putin im Kern treffen" - wirtschaftlich, finanziell und individuell.
Späte Bestätigung für den Wirtschaftsminister
Dreieinhalb Stunden dauerte die Sondersitzung des Bundestags. Eine "Plenardebatte, die in zehn Jahren sicherlich als historisch bezeichnet wird", meinte der grüne Wirtschaftsminister Robert Habeck, der schon im vergangenen Jahr nach einem Besuch in der Ukraine die Lieferung von "defensiven" Waffen angeregt hatte. Was folgte, war ein Aufschrei vor allem auch in der eigenen Partei. Mit der Kehrtwende in der Außen- und Sicherheitspolitik dürfte sich Habeck nun bestätigt fühlen.