EU-Parlament will Kommission verklagen
10. Juni 2021Der Ärger ist bei vielen EU-Abgeordneten in dieser Woche groß. Zwar haben die Institutionen der Union im vergangenen Jahr ein Instrument ausgehandelt, das - so hoffen viele - den Rechtsstaat in der EU besser schützen soll als bisherige Werkzeuge, aber trotzdem passiert - aus ihrer Sicht - nichts.
Aus diesem Grund hat das Europäische Parlament beschlossen, die EU-Kommission zu verklagen. 506 der 705 EU-Abgeordneten aus 27 EU-Staaten stimmten an diesem Donnerstag für die Klage.
Die Kommission gilt als "Hüterin" der EU-Verträge und ist dafür zuständig, dass diese Verträge und das europäische Recht eingehalten werden. Was die Rechtsstaatlichkeit innerhalb der Europäischen Union angeht, wirft eine Mehrheit der EU-Abgeordneten der EU-Kommission nun vor, ihre Aufgabe nicht zu erfüllen. Die Anklage lautet, die EU-Exekutive sei untätig, wenn es darum gehe, gegen EU-Staaten vorzugehen, die wiederholt gegen rechtsstaatliche Normen verstoßen, vor allem Polen und Ungarn.
"Zu lange zugeschaut, wie der Rechtsstaat zerstört wird"
"Es ist Zeit, dass die Kommission endlich ihre Hausaufgaben macht. Zu lange haben wir in Europa zugeschaut, wie der Rechtsstaat zerstört wird", sagt der deutsche Parlamentarier Moritz Körner bei einer Debatte zum Thema. "Das machen wir nicht länger mit als Europäisches Parlament." Seine liberale Renew-Fraktion hatte sich bereits vor der Abstimmung mit vier anderen Fraktionen darauf geeinigt, für die Klage zu votieren.
Körners ungarische Renew-Kollegin Katalin Cseh kommentiert, die EU habe "null Chance", ihren Haushalt zu schützen, wenn die Kommission nicht sofort anfinge, den Rechtsstaatsmechanismus umzusetzen.
Cesh meint damit die Rechtsstaatsklausel, die eigentlich ab dem 1. Januar 2021 gelten sollte. Ein neues Instrument, mit dem zum ersten Mal in der Geschichte der Europäischen Union EU-Staaten Fördermittel entzogen werden können, wenn sie gegen rechtsstaatliche Prinzipien verstoßen. Besonders betreffen könnte das Polen und Ungarn; gegen beide läuft ein sogenanntes Artikel-7-Verfahren, das allerdings in einer Sackgasse steckt. Wie viele EU-Abgeordnete fürchtet die Ungarin Katalin Cseh, dass ihr Heimatland und andere EU-Staaten Gelder aus dem Haushalt der Union missbrauchen könnten, sollte das Rechtsstaats-Instrument zahnlos bleiben.
Ungarn und Polen sind auch die beiden Länder, die die neue Rechtsstaatsklausel im vergangenen Jahr beinahe zum Scheitern gebracht hatten. Beide Staaten hatten zeitweise Corona-Hilfen und den gesamten EU-Haushalt für die nächsten sieben Jahre in Höhe von 1,8 Billionen Euro blockiert. Am Ende stimmten sie zu, inklusive verwässertem Rechtsstaatsmechanismus, nur um dann im März deswegen vor den Europäischen Gerichtshof (EuGH) zu ziehen. Aus Sicht der beiden Staaten verstößt die Klausel gegen EU-Recht.
Klage als letzter Ausweg
Eine Argumentation, die viele EU-Abgeordnete wütend macht. "Manche Kollegen sagen, wir müssen noch warten, wir brauchen mehr Zeit, wir brauchen mehr Informationen", sagt die niederländische Grünen-Parlamentarierin Tineke Strik. Aber mit jedem Tag, den man warte, stürben die Demokratie und der Rechtsstaat ein bisschen mehr. Mit jeder Verzögerung mache man sich schuldig.
Das EU-Parlament hatte der EU-Kommission eine Frist bis zum 1. Juni gesetzt. Da diese nun verstrichen ist, sehen viele in der Klage den letzten Ausweg. Ein Druckmittel, das der für Haushalt zuständige EU-Kommissar Johannes Hahn nicht nachvollziehen kann. "Ich lasse uns nicht vorwerfen, dass wir inaktiv gewesen wären", sagt der Österreicher vor EU-Parlamentariern. "Ich bin bis unter die Haarspitze motiviert, dass wir dieses Ding umsetzen."
Doch gerade, weil er so motiviert sei, wolle er sichergehen, dass die Sache von Anbeginn an funktioniere, damit man bei den ersten Fällen Erfolg habe. Hahn kündigte an, dem EU-Parlament und den EU-Staats- und Regierungschefs in der kommenden Woche die entsprechenden internen Richtlinien der EU-Kommission zu übermitteln
Bislang will die EU-Kommission warten, bis der Europäische Gerichtshof, ein Urteil zu den Klagen Polens und Ungarns gesprochen hat - und folgt damit einem Beschluss der Staats- und Regierungschefs von Ende 2020.
Die Klage der EU-Abgeordneten setzt die EU-Kommission und ihre deutsche Präsidentin Ursula von der Leyen nun gehörig unter Druck. Es wird allerdings noch mindestens vier Monate dauern, bis sich der EuGH dann tatsächlich mit dem Fall beschäftigen wird.