Was taugt der EU-Rechtsstaatsmechanismus?
5. Februar 2021Monatelang sorgte er in der europäischen Öffentlichkeit immer wieder für Aufregung. Im Vetostreit mit Polen und Ungarn stürzte er die Europäische Union in eine schwere Krise. Nach kontroverser Debatte trat er zu Anfang des Jahres schließlich doch noch in Kraft: der sogenannte EU-Rechtsstaatsmechanismus. Mit ihm soll nun alles anders werden in den EU-Mitgliedsstaaten - transparenter, demokratischer, rechtsstaatlicher.
Der amtliche Name des Mechanismus ist unscheinbar: "Allgemeine Konditionalitätsregelung zum Schutz des Haushalts der Union" lautet er. Nominell soll diese Regelung der EU dazu dienen, Mitgliedsstaaten zu sanktionieren, wenn sie von den Grundwerten der Europäischen Union und von Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit abweichen.
Über derartige Sanktionsmöglichkeiten wird in der EU seit einem Jahrzehnt zäh und erbittert gerungen. Auslöser war zunächst die antidemokratische Umgestaltung Ungarns, die Viktor Orbán ab 2010 einleitete; ab 2015 kam dann die Politik der von der Partei "Recht und Gerechtigkeit" (PiS) geführten Regierungen in Polen dazu.
Beide Länder ruft die Europäische Union seit Jahren immer wieder dazu auf, Rechtsstaatlichkeit einzuhalten - ohne Erfolg, denn die bisherigen Sanktionsmöglichkeiten, etwa das schwerfällige Artikel-7-Verfahren, haben allesamt versagt.
Vom Rechtsstaats- zum Anti-Korruptionsmechanismus
Der Rechtsstaatsmechanismus soll dieser Situation nun ein Ende setzen. Doch kann er das wirklich? Mehr noch: Ist er nach seinem Inkrafttreten Anfang Januar überhaupt rechtswirksam und kann er angewendet werden? Das ist der Standpunkt der Europäischen Kommission und des Europaparlamentes. Doch Polen und Ungarn bestehen darauf, dass der Mechanismus erst einmal vom Europäischen Gerichtshof überprüft und erst nach einem Urteil angewendet wird. Das könnte sich ein bis zwei Jahre hinziehen.
Die jetzt in Kraft getretene Regelung geht auf eine Initiative des Europaparlaments aus dem Jahr 2018 zurück. Ursprünglich schwebte vielen Parlamentariern dabei ein breit gefasster Mechanismus vor, mit dem eine Vielzahl von Verletzungen der Rechtsstaatlichkeit in der EU hätte sanktioniert werden können. Doch im Juli 2020 schlossen Parlament, Kommission und Mitgliedsstaaten einen Kompromiss: Der Mechanismus wurde auf Verstöße eingegrenzt, bei denen EU-Gelder im Spiel sind.
Verwässert durch Ungarn und Polen
Dadurch, so sehen es die meisten Experten, wurde die Verordnung von einem Rechtsstaats- zu einer Art Anti-Korruptionsmechanismus abgewertet. "Das ist leider die Realität", sagt der prominente ungarische Verfassungsrechtler Gábor Halmai, der am European University Institute in Florenz lehrt, der DW. "Daran, dass die EU im Falle Ungarns seit zehn und im Falle Polens seit fünf Jahren unfähig ist, schwerwiegende Verletzungen rechtsstaatlicher Grundsätze zu sanktionieren, ändert sich auch mit dem neuen Mechanismus nichts."
Auch die Vizepräsidentin des Europäischen Parlaments, die deutsche SPD-Politikerin Katarina Barley, ist nicht glücklich mit dem Kompromiss. "Leider muss man sagen, dass es den Regierungen von Ungarn und Polen gelungen ist, den Mechanismus ein Stück weit zu verwässern", sagt sie der DW.
Hürden bei der Zustimmung
Zu den Hürden, die auf Drängen von Mechanismus-Gegnern eingebaut wurden, zählt auch, dass der Europäische Rat, das Gremium der EU-Staats- und Regierungschefs, Sanktionen mit qualifizierter Mehrheit zustimmen muss. In der Praxis sind das 15 der 27 EU-Länder mit mindestens 65 Prozent der EU-Bevölkerung. Ursprünglich war es umgekehrt geplant: Sanktionen sollten nur mit qualifizierter Mehrheit des Rates verhindert werden können.
Umgekehrt konnte das EU-Parlament allerdings durchsetzen, dass eine allgemeine Gefährdung der Unabhängigkeit der Justiz einen Grund darstellen kann, ein Sanktionsverfahren einzuleiten. Katarina Barley sagt, dadurch sei der Mechanismus eben doch nicht ganz eng begrenzt auf Anti-Korruptionsfragen und könne breiter eingesetzt werden. "Der Mechanismus besagt ja", so die Vizepräsidentin des EU-Parlaments, "dass, wenn es keine unabhängige Justiz gibt, auch keine unabhängige und effiziente Kontrolle bei der Verteilung von EU-Geldern gewährleistet ist."
Prüfung durch den Europäischen Gerichtshof
Da das alleinige Initiativrecht für Sanktionsverfahren bei der EU-Kommission liegt, werde viel von deren politischen Willen abhängen, meint Barley. In diesem Punkt ist sie eher skeptisch: Bislang sei die Kommission gegenüber Polen und Ungarn eher zurückhaltend gewesen.
Barley fühlte sich in ihrem Skeptizismus bestätigt, als die EU-Kommission im Dezember keinen Einspruch gegen die Erklärung der EU-Staats- und Regierungschefs erhob, der zufolge der Mechanismus vor seiner Anwendung auf Antrag von Mitgliedsstaaten erst einmal vom Europäischen Gerichtshof geprüft werden solle. Von dieser Möglichkeit wollen Polen und Ungarn Gebrauch machen.
Bürgerrechtler sind enttäuscht
Auf Anfrage der DW bestreitet eine Sprecherin der EU-Kommission allerdings, dass der Rechtsstaatsmechanismus bis zu seiner Prüfung durch den EuGH nicht angewendet werde. "Die Kommission ist dabei, Richtlinien für die Anwendung der Regelung festzusetzen", heißt es in der Antwort auf eine schriftliche Anfrage der DW. "Die Regelung wird mit Datum 1. Januar 2021 angewendet und kein Fall wird verloren gehen."
Unabhängig davon zeigen sich Experten und Bürgerrechtler bereits jetzt enttäuscht. Der neue Mechanismus sei zwar "ein Schritt nach vorn", sagt Márta Pardavi, die Co-Präsidentin des ungarischen Helsinki-Komitees, einer der wichtigsten ungarischen Bürgerrechtsorganisationen. "Dennoch ist die Regelung nur ein unvollkommenes Mittel zum Schutz des Rechtsstaats. Das Ergebnis der langen Debatte darüber ist etwas, mit dem niemand zufrieden sein kann."
Noch kritischer urteilt der Verfassungsrechtler Halmai. Die größten Verlierer der Debatte um den Rechtsstaatsmechanismus seien diejenigen, die gehofft hatten, dass man den Abbau von Demokratie und Rechtsstaat in Polen und Ungarn mit Hilfe der EU rückgängig machen könne. "Sie müssen nun einsehen, dass sie nicht auf die Hilfe Brüssels zählen können", so Halmai.