Mord an Sinti und Roma: Kinder "vernichten"
2. August 2021"Liebe Banetla", schreibt Margarete Bamberger an ihre Schwester in Berlin, "muss dir mitteilen, dass meine beiden kleinsten Kinder gestorben sind". Ihr Brief wird 1943 aus dem sogenannten "Zigeunerlager" in Auschwitz-Birkenau geschmuggelt. Margarete Bamberger ist mit ihrem Mann Willi und ihren Kindern dort. Die Eltern werden überleben, alle Kinder sterben.
1943 bittet die Mutter um Pakete mit Lebertran, Hustensaft, Vitamin C, Waschpulver und ein Mittel gegen Krätze: "Und wenn es eine Kleinigkeit ist, hier hilft es uns sehr." Wie schrecklich ihre Situation ist, verschlüsselt sie auf Romanes: "Extra Gruß von Baro Naßlepin, Elenta und Marepin" - ein Hinweis auf "große Krankheit, Elend und Mord".
Nachzulesen im Original - und zu hören auf Deutsch, Englisch und Romanes - ist ihr Brief einer von 60 Zeugnissen im Portal "Voices of the Victims" im RomArchive. Europäische Wissenschaftler haben - koordiniert von der Historikerin Karola Fings - Briefe und Aussagen von Verfolgten der Minderheit aus 20 Staaten gesammelt: Belarus, Belgien, Bosnien und Herzegowina, Deutschland, Estland, Frankreich, Italien, Kroatien, Lettland, Niederlande, Österreich, Polen, Rumänien, Russland, Schweiz, Serbien, Slowakei, Tschechien, Ukraine und Ungarn.
Das Besondere: Hier kommen nicht die Täter zu Wort, sondern Sinti und Roma selbst, betont Fings von der Forschungsstelle Antiziganismus an der Universität Heidelberg im DW-Interview. Die Texte entstanden in der Zeit der Verfolgung oder kurz danach, als die Betroffenen über die Verbrechen an der Minderheit aussagten und versuchten, die Täter vor Gericht zu bringen.
Auschwitz-Birkenau 1944: Mord an Kindern, Kranken, Alten
Wie die Kinder von Margarete Bamberger sterben die allermeisten Häftlinge an Hunger, Krankheiten und Gewalt. Die Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 wird zum "entsetzlichen Höhepunkt" der rassistischen Verfolgung von Sinti und Roma, sagt Fings.
Die SS löst das Familienlager auf: Sie treibt 4300 schreiende und weinende Menschen in den Tod, ein Schreckenstag des Völkermords an Sinti und Roma, dem Porajmos. Das Europäische Parlament hat den 2. August als Europäischen Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma festgelegt. Wegen der Corona-Pandemie wird der Tag weitgehend digital begangen.
Im Gas erstickt wird in der Mordnacht 1944 auch die Tochter von Zilli Schmidt: die vierjährige Gretel mit ihren Großeltern, ihrer Tante und deren sechs Kindern. Wie andere arbeitsfähige KZ-Häftlinge wird Gretels Mutter kurz vorher abtransportiert. Als sie vom Zug zurück zu ihrer Familie laufen will, zwingt SS-Arzt Josef Mengele sie mit einer Ohrfeige zurück in den Waggon: "Er hat mein Leben gerettet, aber er hat mir damit keinen Gefallen getan."
Auch Mano Höllenreiner (10) aus München wird vorher mit seinen Eltern abtransportiert ins Konzentrationslager Ravensbrück. Viele Verwandte verliert er in Auschwitz: Cousinen mit ihren Kindern, Tanten und "meine arme Großmutter, die ich so geliebt habe - auch vergast".
Aus dem katholischen Kinderheim nach Auschwitz
Franziska Kurz hatte man ihre Kinder Otto, Sonja, Thomas und Albert weggenommen und ins Heim gesteckt. Von dort wurden sie deportiert.
1946 schreibt die Mutter an die Oberin des katholischen Kinderheims St. Josefspflege. Die Polizei hätte ihr seinerzeit mündlich mitgeteilt, "daß sich meine 4 Kinder in Auschwitz befänden". Sie habe gefragt: "Was wollen Sie denn noch von meinen armen Kindern?" Die kurze Antwort: "Vernichten".
Man habe sie gewarnt, sich "ruhig zu verhalten". Sonst müsse man sie und ihr jüngstes Kind Maria auch in ein Konzentrationslager überweisen.
Otto, Sonja, Thomas und Albert werden in Auschwitz ermordet. Von 39 Sinti-Kindern aus der St. Josefspflege überleben nur vier. Die katholische Kirche schützt sie nicht.
Kein Einzelfall. Im Mai 1943, als die Deportation nach Auschwitz und Zwangssterilisierungen drohen, schreibt Oskar Rose dem Erzbischof von Breslau: "Wenn unsere katholische Kirche uns nicht in ihren Schutz nimmt, so sind wir einer Maßnahme ausgesetzt, die moralisch wie auch rechtlich jeder Menschlichkeit Hohn spricht." Er betont, es gehe nicht um einzelne Familien, "sondern um 14.000 Angehörige der römisch-katholischen Kirche."
Dieser und weitere Hilferufe bleiben folgenlos. Im Gegensatz dazu, sagt Karola Fings, gibt es Beispiele im besetzten Jugoslawien und der besetzten Sowjetunion, "wo muslimische Gemeinschaften Roma schützten, die dann nicht ausgeliefert wurden".
Völkermord in Europa - weit über Auschwitz hinaus
Wo die Nationalsozialisten in Europa vorrücken, werden Sinti und Roma verfolgt und kämpfen ums Überleben. Viele werden ermordet - in Lagern oder bei Erschießungen. "Das variierte je nach Besatzungspolitik und Bündnispartnern", sagt Karola Fings.
Für das deutsch besetzte Polen seien neben den Vernichtungslagern etwa 180 Orte von Massakern bekannt. Auch für die Sowjetunion oder Jugoslawien gelte: "Die meisten Opfer wurden nicht in Lagern ermordet, sondern an Ort und Stelle erschossen."
Im besetzten Böhmen und Mähren, heute Tschechien, sperrte man Sinti und Roma in die Lager Lety und Hodonin, dann deportierte man sie nach Auschwitz. In Kroatien war Jasenovac "ein besonders grausames Lager, wo viele erschlagen wurden".
Kroatien: "Wir waren zum Sterben hierhergebracht worden"
Josip Joka Nikolić ist Musiker: "Von meiner Geburt bis 1942 lebte ich mit meiner Familie dauerhaft in der Ortschaft Predavec." Dann dringen Gendarmen und Männer der profaschistischen Ustaša des Unabhängigen Staats Kroatien (USK) in das Haus ein, bringen seine und andere Roma-Familien weg, angeblich für eine Umsiedlung - "vom ältesten Mann bis zum jüngsten Kind": seine Frau, die acht Monate alte Tochter, Eltern, Brüder und deren Familien. Im Viehwaggon werden sie ins Konzentrationslager Jasenovac transportiert.
Nikolić wird klar: "Wir waren zum Sterben hierhergebracht worden." Er wird gewaltsam von Frau und Kind getrennt, bald darauf mit anderen Männern zur Exekution geführt. Es gelingt ihm, zu fliehen und sich der Widerstandsbewegung der Partisanen anzuschließen. Seine ganze Familie stirbt in Jasenovac. Nikolić sagt 1952 im Strafverfahren gegen den Innenminister des USK aus, der aber in die USA geflohen ist.
Serbien: "Mein jüngstes Kind starb"
Ende Oktober 1941, so berichtet Milena Stanković, umstellen die Deutschen ihr Viertel in Belgrad, da brechen "zwei Agenten und zwei Gendarme des serbischen Staatsschutzes in unsere Wohnung ein". Ihr Ehemann und ein Bruder sind Angestellte der Stadtverwaltung, ihr Stiefsohn Musiker, ein anderer Bruder Arbeiter. Alle haben Kinder, alle die serbische Staatsangehörigkeit. Die Männer bringt man in ein Lager, bis zu 1500 Roma werden interniert. Einige Tage später erschießt man sie außerhalb der Stadt.
Gut einen Monat nach der Tötung ihrer Männer werden auch die Romnja, die Frauen mit ihren Kindern von deutschen Besatzern und serbischen Behörden auf Lastwagen getrieben und in ein Konzentrationslager gebracht. Sie leiden unter extremer Kälte und Hunger. "Mein jüngstes Kind starb, weil ich es nicht mehr stillen konnte", berichtet Natalija Mirković.
Wer einen festen Wohnsitz nachweisen kann, wird später entlassen, Nachbarn haben sich eingesetzt. Andere werden mutmaßlich zusammen mit jüdischen Gefangenen getötet. Der Chef der deutschen Militärverwaltung in Serbien erklärt im August 1942, Serbien sei das einzige Land, in dem "die Juden- und Zigeunerfrage" "gelöst" sei.
Ungarn: "Er schoss ihr mit der Maschinenpistole das Kind aus dem Bauch"
Angela Lakatos ist hochschwanger, hat Krämpfe, als 30 bis 40 Gendarmen im Februar 1945 in ihre Roma-Siedlung in Westungarn kommen und sie hinaustreiben. Als sie um Hilfe bittet, antwortet ein Gendarm: "Ihr sollt verrecken." 120 Roma werden in eine Scheune gesperrt. Sie flehen um Wasser für die Kinder, bekommen Schläge.
Erst werden die Männer weggebracht, dann die jüngeren Frauen. Eine ebenfalls hochschwangere Frau kann nicht mehr gehen. Ein Gendarm schlägt sie, der andere schießt "mit der Maschinenpistole das Kind aus dem Bauch heraus". Man treibt Lakatos und die anderen zu einer Grube: "Dort sah ich meinen Vater tot liegen und meine beiden Brüder. Ich selbst sprang halb, halb fiel ich in die Grube."
Sie zieht ihr Tuch über den Kopf, "um nicht zu sehen, was kommt. Doch da begannen Schüsse zu regnen". Achtmal wird sie getroffen, in den Arm, das Bein, den Bauch. Andere fallen auf sie, ihre Körper fangen die Kugeln ab. Stunden später klettert sie aus der Grube.
Angela Lakatos überlebt schwer verletzt, sie verliert ihre ganze Familie und ihr ungeborenes Kind. Nach Kriegsende sagt sie als Zeugin gegen den Kommandierenden József Pintér aus und betont das zielgerichtete Vorgehen. Pintér wird als Kriegsverbrecher verurteilt und im September 1948 hingerichtet - einer der wenigen Täter, die wegen Tötungsverbrechen an Roma zur Rechenschaft gezogen werden.
Russland: "Nicht nur Kinder lebend in die Grube geworfen"
Von einem "alptraumhaften Verbrechen" berichtet Lidija Nikitična Krylova, das "deutsche Eindringlinge im Dorf Aleksandrovka an friedliebenden Sowjetbürgern, den Mitgliedern der nationalen Roma-Kolchose verübten". Im April 1942 ruft ein deutscher Offizier mit einer Liste die Dorfbewohner einzeln auf. Nicht-Roma schickt er nach Hause.
Die Roma-Familien werden mit Peitschen "wie Vieh getrieben", nackt ausgezogen, an den Rand einer Grube gestellt. Die älteren Kinder erschießt man vor den Augen der Mütter, dann reißt man ihnen die Säuglinge aus den Armen und wirft sie hinunter.
"Nicht nur Kinder wurden lebend in die Grube geworfen", berichtet die Überlebende: Die Deutschen stoßen eine kranke, alte Frau hinein, deren Töchter sie tragen. Krylova und andere entgehen ihrer Ermordung im letzten Moment. Sie sagen später bei sowjetischen Ermittlungen zu NS-Gewaltverbrechen aus.
Roma in Osteuropa waren von Entschädigung ausgeschlossen
In vielen Ländern sei bis heute zu wenig im Bewusstsein, dass Sinti und Roma Opfer eines systematischen Völkermords wurden, sagt Karola Fings. Erst die europäische Perspektive zeige das Ausmaß der Gewalt- und Tötungsverbrechen.
Sie leitet die Forschung zu einer Enzyklopädie des nationalsozialistischen Völkermords. Das Auswärtige Amt fördert das Projekt mit 1,2 Millionen Euro.
In Deutschland wurde der Völkermord jahrzehntelang geleugnet. Täter bei der Kriminalpolizei setzten die rassistische Erfassung mit den NS-Akten fort. Sie verhinderten die Anerkennung der Verfolgung - eine weitere Traumatisierung für die Überlebenden, die auch die 2. und 3. Generation belaste, sagt Fings.
Die Historikerin war Mitglied der Unabhängigen Kommission Antiziganismus, die kürzlich ihren Abschlussbericht vorgelegt hat. Neben der klaren Anerkennung des Genozids und Aufklärung durch eine Wahrheitskommission, sagt sie, müsse es auch eine materielle Kompensation geben, nicht nur in Deutschland: "Das betrifft diejenigen, die in anderen Ländern leben, insbesondere in Osteuropa, die nach 1945 vollständig von einer Entschädigung ausgeschlossen wurden."
Zudem fordere die Kommission, dass Deutschland - wie im Fall der jüdischen NS-Verfolgten und ihrer Nachkommen - Verantwortung übernimmt, "dass Roma und Romnja als besonders schutzbedürftige Gruppe anerkannt werden".