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Verdienstorden für Auschwitz-Überlebende

7. April 2021

Zum weltweiten Roma Day hat Bundespräsident Steinmeier der Sinteza Zilli Schmidt als Zeitzeugin des Völkermords den Verdienstorden verliehen. Sie sagt, "was mit den Sinti passiert ist" und kämpft gegen Hass.

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Zilli Schmidt Auschwitz-Überlebende
Bild: Markus Mertens

"Durch Ihre Vermittlung wissen wir heute mehr über das Leiden der Sinti und Roma, aber auch viel mehr über ihr Leben, ihre Musik und ihre Kultur", das schreibt Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier Zilli Schmidt in einem Brief, in dem er ihr den Verdienstorden der Bundesrepublik Deutschland verleiht. Die persönliche Ehrung soll wegen der Corona-Pandemie nachgeholt werden. "Wir erleben Sie auch heute noch - mit 96 Jahren! - als unerschütterliche Kämpferin gegen Hass, Ausgrenzung und Rechtsextremismus."

Genau so ist sie zuletzt im September 2020 vor Publikum in Mannheim aufgetreten: Über die Schwelle in den großen Saal lässt sich Zilli Schmidt helfen, dann stützt sich die zierliche 96-Jährige nur noch auf ihren Stock. "Dein Besuch ist ein Geschenk", sagen viele, die sie begrüßen und sich später bei ihr bedanken. "Es geht um deine Geschichte, die unsere Geschichte ist", betont Daniel Strauß, Vorsitzender des Landesverbands der Sinti und Roma in Baden-Württemberg.

Wegen der Corona-Krise fiel die Buchvorstellung in Berlin aus. An ihrem Wohnort Mannheim ist Zilli Schmidt nun - mit Maske - ins Kulturhaus RomnoKher gekommen. Zilli Schmidt, die Auschwitz überlebte und ihre Liebsten dort verlor.

Deutschland | Veranstaltung Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Mannheim | Zilli Schmidt
Sagen, was mit den Sinti passiert ist: Zilli Schmidt (96) kam trotz Corona-Pandemie zur Lesung ihres Buchs in Mannheim Bild: Andrea Grunau/DW

Die lange Lesung aus den bewegenden Erinnerungen Schmidts übernimmt Schauspielerin Carmen Yasemin Zehentmeier. "Ich habe Angst, dass ich weinen muss", sagt sie der DW. Sie habe nicht gewusst, wie grausam die Minderheit der Sinti und Roma im Nationalsozialismus verfolgt wurde.

Sie liest aus Schmidts Buch: "Gott hat mit mir etwas vorgehabt. Erinnerungen einer deutschen Sinteza": von glücklichen Kindertagen, dann von Haft, Hunger, Schüssen auf kleine Kinder, Massenmord. Schweigen und Schlucken im Publikum. Zilli Schmidt hört konzentriert zu, sie nickt, seufzt, schüttelt traurig den Kopf. 

"Hat keiner mehr gelebt"

Im Gespräch mit der Deutschen Welle erklärt sie mit fester Stimme "meine Aufgabe": Sagen, was die Nazis mit den Sinti gemacht haben. "Die sind alle vergast worden, meine ganze Familie, meine ganzen Menschen." Nach dem Krieg habe man nur gehört: "Die Juden sind vergast worden. Und unsere Sinti leben alle noch?" Sie macht eine Pause: "Hat keiner mehr gelebt."

Am 2. August 2018 sprach sie zum ersten Mal öffentlich über ihr Leben - bei der Gedenkfeier für die ermordeten Sinti und Roma Europas am Mahnmal in Berlin: "Ich habe für meine Menschen gesprochen." Viele junge Menschen waren da, das freut sie besonders: "Die Jugend ist ja nicht aufgeklärt worden, die haben das in den Schulen nicht gebracht."

Deutschland Berlin | Auschwitz-Überlebende | Zilli Schmidt
2. August 2018 am Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma: "Heute habe ich meine ganze Familie verloren"Bild: M. Priske

"Wenn ich träum', bin ich wieder in Auschwitz"

Das Erinnern sei nicht leicht, sagt sie: "Ich muss oft weinen, aber ich zeig es nicht, schluck es runter. Es ist nicht einfach, meine Zeit zu erzählen und wie meine Menschen vergast worden sind. Ich habe ein Kind dabei gehabt. Nein, nein." Die Erinnerungen quälen sie: "Wenn ich träum', bin ich wieder in Auschwitz." Nachts läuft sie durch die Wohnung, dann weint sie, nimmt Antidepressiva, seit vielen Jahren.

Ihre Tochter Gretel, "mein liebes Mädchen", wäre jetzt 80 Jahre alt. Zilli Schmidt, geborene Reichmann, könnte Enkel- und Urenkelkinder haben. Aber Gretel, ihr Mädchen, "ist nicht großgeworden". Im Lager sieht die Kleine die Schornsteine der Verbrennungsöfen: "Mama, da hinten werden wieder die Menschen verbrannt." Zilli widerspricht ihrer Tochter: "Nein, da backen sie doch nur Brot."

Buchausschnitt | Auschwitz-Überlebende Zilli Schmidt
Das "Kostbarste", das Zilli Schmidt besitzt: ein Foto ihrer Tochter Gretel (re.), die in Auschwitz ermordet wurdeBild: Zilli Schmidt/Buch: Gott hat mit mir etwas vorgehabt. Erinnerungen einer deutschen Sinteza

Gretel stirbt mit vier Jahren und drei Monaten - ermordet am 2. August 1944 in den Gaskammern von Auschwitz-Birkenau, ebenso wie Zillis Eltern und ihre Schwester Guki mit sechs Kindern, als die SS das sogenannte "Zigeunerfamilienlager" auflöst. Allein in dieser Nacht ermordet die SS etwa 4300 schreiende und weinende Menschen, ein Schreckenstag des Völkermords an den Sinti und Roma, dem Porajmos.

Wie andere junge arbeitsfähige KZ-Häftlinge wird Zilli Schmidt, damals 20, vor der Mordnacht abtransportiert. Ihr Vater will Gretel retten, behält sie bei sich. Als sie vom Zug zu ihrer Familie laufen will, zwingt SS-Arzt Josef Mengele die junge Mutter mit einer Ohrfeige zurück in den Waggon: "Er hat mein Leben gerettet, aber er hat mir damit keinen Gefallen getan." Im KZ Ravensbrück erfährt sie, was mit ihrer Familie geschehen ist. Sie fällt um und schreit.

"Eine glückliche Familie"

Als Cäcilie Reichmann ist sie 1924 in Thüringen geboren in eine Schausteller-Familie, die mit einem Wanderkino und Musik die Menschen unterhält. "Wir waren eine glückliche Familie", heißt es im Buch. Den Wohnwagen, mit dem die Reichmanns im Sommer unterwegs sind, hat ihr Vater selbst gebaut, "ein richtiges Schmuckkästchen", der Ofen bemalt mit goldenen Vogelmotiven, Meißener Porzellan im Schrank. Ihr Bruder handelt mit Geigen, Mutter und Schwestern gehen von Tür zu Tür und verkaufen feinste Spitzen.

Tschechien Prag | Auschwitz-Überlebende | Frühere Bilder
Glückliche Kindheit: Zilli Reichmann (li.) mit ihrem Cousin Willi und ihrer Cousine BlumaBild: privat/Z. Schmidt

Die Nesthäkchen Zilli und ihr kleiner Bruder Hesso besuchen unterwegs die Schule, im Winter monatelang am gleichen Ort - in Thüringen und Bayern. Die Lehrer setzen sie in die letzte Reihe. Manchmal werden sie von Mitschülern verfolgt. "Zigeuner, Zigeuner", wiederholt Zilli Schmidt 90 Jahre später den Schimpfgesang. Als Kind wehrt sie sich handfest - mit ihrem hölzernen Griffelkasten.

"Wir waren Wehrmachtsangehörige"

Als 1933 die Nationalsozialisten an die Macht kommen, sagt ihr Vater: "Die bringen nur die Verbrecher weg." Er fühlt sich sicher, sie haben ja nichts verbrochen. 1939 beginnt der Zweite Weltkrieg. Zillis großer Bruder Stifto dient in der Wehrmacht, in Russland, in Frankreich: "Wir waren Wehrmachtsangehörige." Der NS-Staat schaut nicht auf Wohlverhalten, er treibt die rassistische Verfolgung der Minderheit voran.

Verwandte sind schon ins KZ Buchenwald verschleppt, da reist Familie Reichmann quer durch Deutschland bis nach Frankreich, um den Behörden zu entgehen - vergeblich. In Straßburg wird Zilli Reichmann zusammen mit ihren Cousinen festgenommen. "Straftat: Zigeunerin", notiert die Polizei, nachzulesen im reich dokumentierten und illustrierten Buch, das die Stiftung Denkmal herausgegeben hat.

"Gott hat mir geholfen"

Zilli Reichmann wird durch mehrere Gefängnisse geschleust, dann gelingt ihr im Lager Lety im deutschen "Protektorat Böhmen und Mähren", heute Tschechien, die Flucht. Doch sie wird erneut festgenommen.

Im März 1943 tätowiert ihr ein Häftling in Auschwitz die Nummer Z1959 auf den Arm. Sie landet als erste der Reichmanns in Auschwitz-Birkenau im "Zigeunerfamilienlager": Hunger, Durst, Krankheiten, Gewalt, Tote.

Um den Kindern und anderen zu helfen, habe sie "geklaut wie ein Rabe", Kartoffeln in der Küche, Stiefel in der Kleiderkammer, sie riskiert ihr Leben.

Zweimal steht ihr Name auf der Liste für die Gaskammer, zweimal kommt sie davon, berichtet sie im Buch und mit eigener Stimme in einem Film von Hamze Bytyci, der in Mannheim gezeigt wird. Sie übersteht drei Tage Stehbunker: kein Wasser, kein Essen, keine Toilette. "Als ich drin war, hab ich gedacht, ihr könnt mir den Buckel runterrutschen. Wenn ich rauskomme, klaue ich weiter." Einmal schießt ein Wachtposten auf sie, die Kugel verfehlt sie knapp. Später kann sie mit ihrer Cousine Tilla noch einmal fliehen aus einem KZ-Außenlager. Sie überlebt den Krieg. "Gott hat mir geholfen, ich allein hätte es nicht überstanden", sagt Zilli Schmidt. "Ich bin nicht umsonst noch hier." Sie ist eine der letzten Zeitzeuginnen.

Tschechien Prag | Auschwitz-Überlebende | Frühere Bilder
Vor dem Horror der Konzentrationslager: Zilli Reichmann (re.) mit Cousine Tilla (1939/40 in Prag)Bild: privat/Z. Schmidt

Nach dem Krieg leidet Zilli Reichmann unter Depressionen, sie nimmt Medikamente, baut sich ein neues Leben auf. Später kommen die Schuldgefühle, überlebt zu haben, während die Liebsten ermordet wurden. Mit ihrem Mann Toni Schmidt, auch er ein KZ-Überlebender, beantragt sie in München "Wiedergutmachung" für die Haft in den Konzentrationslagern.

Die Auschwitz-Überlebende Zilli Schmidt berichtet aus ihrem Leben - MP3-Stereo

Nach vielen Jahren Papierkrieg erhält Zilli Schmidt nur wenig Geld: "Aber ich war froh, dass ich das gehabt hab. Nach dem Lager waren wir ganz arme Menschen." Erst 1982 erkennt die Bundesrepublik Deutschland die rassistische Verfolgung an.

Warnung vor neuen Nazis

Zilli Schmidt hat fast ein Jahrhundert Erfahrungen mit Ausgrenzung und Verfolgung als deutsche Sinteza. Was macht ihr Sorgen? "Liebe Kinder, Ihr müsst sehr stark sein", sagt sie beschwörend: "Wir leben in einer schlechten Zeit. Die Hitlers sind am Werk, die sind nicht totzukriegen". Die 96-Jährige betont: "Ich will informiert werden, was in der Welt zugeht. Deswegen sehe ich das alles im Fernsehen - dass sogar in der Polizei Nazis sind." Sie hat Angst vor neuen Nazis: "Wenn sie wissen, wo ich wohne, dass sie mich umbringen."

Deutschland | Holocaust-Überlebende Zilli Schmidt im Gespräch mit Romeo Franz
Zilli Schmidt hat Romeo Franz das Versprechen abgenommen, gegen neue Nazis zu kämpfenBild: Jana Mechelhoff-Herezi

Romeo Franz, erster deutscher Sinto im Europaparlament, führt Zilli Schmidt nach der Lesung aus dem Saal, sie kennen sich gut. Er ist gut 40 Jahre jünger, auch in seiner Familie gibt es Auschwitz-Opfer, auch er wurde auf dem Schulweg als "dreckiger Zigeuner" beschimpft und geschlagen. Romeo Franz kennt die Ängste Zilli Schmidts vor Antiziganismus und Rechtsnationalismus: "Sie hat mir das Versprechen abgenommen, dass ich mich dagegen einsetze."

Vernetzung und Stärkung der Minderheit

Nach der Lesung stehen draußen im Hof drei junge Frauen zusammen. Sie gehören zur Minderheit der Sinti und Roma, kannten sich bisher nur aus den sozialen Medien. Was Zilli Schmidt erzählt, berührt sie sehr. Sie nutzen die gleichen Koseworte für ihre Kinder, sie kennen aus ihren Familien die Erleichterung bei der Geburt eines Kindes mit heller Haut, von der auch die 96-Jährige spricht: "Die kommen besser durchs Leben als wir schwarzen."

Deutschland | Veranstaltung Landesverband Deutscher Sinti und Roma in Mannheim
Vernetzen gegen Antiziganismus: Verena Lehmann, Victoria Groß und Christina Schumacher (v.l.n.r.)Bild: Andrea Grunau/DW

Christina Schumacher ist russische Roma, geboren in Sibirien, sie kam mit ihren Eltern nach Deutschland. Verena Lehmanns Großmutter war in Auschwitz, konnte kaum darüber reden. Enkelin Verena sprach am 2. August 2020 am Mahnmal für die Ermordeten in Berlin: "Wir Kinder wussten früh, was ein KZ ist und was Nazis sind. Vor Hitler hatte ich besonders Angst." Und das viele Jahre nach dem Krieg, nach dem Tod des Diktators - das Trauma der Verfolgung und die Ängste werden vererbt, sagt sie.

Viele Sinti und Roma outen sich nicht aus Sorge vor Ablehnung. Victoria Groß arbeitet als Erzieherin. Als eine Bekannte gegen den Einzug einer Sinti-Familie protestiert, erzählt sie ihr, dass sie zur Minderheit gehört: "Das machte die Runde." Jetzt werde ihre Tochter nicht mehr zu Kindergeburtstagen eingeladen: "Sie hat geweint." Die Zehnjährige fragt: "Warum hast du das gesagt?" Victoria Gross sagt, verstecken sei keine Lösung. Sie setzt auf Vernetzung in der Minderheit, um sich gegenseitig zu stärken, und auf Aufklärung, darum engagiert sie sich in der Jugendarbeit.

"Ich erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache"

Wie hat es Zilli Schmidt geschafft, nicht zu verbittern und in Deutschland nur Nazis zu sehen? "Es sind nicht alle Nazis, sind viele gute Menschen."

Sie sei ein guter Menschenkenner, sagt sie, das musste sie bei ihren schlechten Erfahrungen sein: "Ich guck Dir ins Gesicht - wenn du die Maske runter nimmst. Dann sehe ich, ob du ein guter Mensch bist oder ein böser." Sie muss lachen unter ihrer eigenen Corona-Schutz-Maske: "Ist ja schön, dass man noch mal lachen kann."

Ihren Lesern im Buch gibt Zilli Schmidt ein Versprechen: "Ich vergesse es nicht und erzähle meine Geschichte, bis ich meine Augen zumache und bin bei meinem Herrn."

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