Sinti und Roma bangen um Denkmal
2. August 2020Jedes Mal, wenn sie nach Berlin kommt, besucht Roxanna-Lorraine Witt das Mahnmal für die ermordeten Sinti und Roma im Tiergarten. Für sie ist es ein spezieller Ort. Drei der Geschwister ihrer Großmutter überlebten nicht die systematische Ermordung der Sinti und Roma während der Nazizeit.
Doch in Roxanna-Lorraine brodelt es. Sie hat Angst, dass das Mahnmal hier bald nicht mehr stehen könnte. Denn: Berlin plant den Bau einer neuen S-Bahn-Linie unter dem Denkmal. Das Denkmal soll dann erstmal auf unbestimmte Zeit verschwinden - einfach so. "Es muss klar sein, dass das Mahnmal unantastbar bleibt", sagt die 27-jährige Aktivistin aus Minden. "Und es müsste die Verantwortung der Politik sein, dafür zu sorgen." Der eigentliche Skandal sei, dass man überhaupt dafür protestieren muss, findet Witt.
Das Gedenken an die Sinti und Roma, die in der NS-Zeit umgebracht wurden, war lange Zeit nicht im öffentlichen Bewusstsein in Deutschland verankert. Dabei kamen im "Porajmos", wie der Genozid in der Sprache der Roma genannt wird, groben Schätzungen zufolge bis zu 500.000 Menschen ums Leben. Genaue Zahlen sind nicht bekannt. Noch lange nach dem Krieg fühlten sich Sinti und Roma diskriminiert, wurden polizeilich erfasst, und als Opfergruppe nicht wahrgenommen. Erst 1982 erkannte die Bundesregierung an, dass die Ermordung der Sinti und Roma als "Völkermord" zu bezeichnen sei.
Sinti und Roma wurden über Baupläne nicht informiert
Als 2012 das Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas nur 50 Meter vom Reichstagsgebäude enthüllt wurde, wirkte dies wie eine Bestätigung der Verantwortung, die der deutsche Staat gegenüber der Minderheit bereit war zu tragen: ein kreisrundes Wasserbecken mit dreieckiger Stele, die an den Winkel auf der Kleidung der KZ-Häftlinge erinnern sollte.
Doch jetzt könnte genau diese Nähe zum Parlamentsgebäude dem Denkmal zum Verhängnis werden. Denn für den Bau der neuen S-Bahn mitten durchs Regierungsviertel soll das Denkmal jetzt vorübergehend abgebaut werden. "Für uns war das unvorstellbar, dass man plant, das Mahnmal zu tangieren, ohne mit uns zu sprechen", sagt Romani Rose, Vorsitzender des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
Roses Leben ist vom Kampf um die Anerkennung der Nazi-Verbrechen geprägt. 1980 hatte er beispielsweise zusammen mit anderen Aktivisten Hungerstreiks auf dem ehemaligen KZ-Gelände in Dachau durchgeführt, um die Aufmerksamkeit auf die damals noch verdrängte Opfergruppe zu lenken.
Deutsche Bahn "verblüfft"
Nun sprach er die Deutsche Bahn auf die Zukunft des Denkmals an. Die Bahnvertreter seien "völlig verblüfft” gewesen, dass das Tangieren eines Denkmals problematisch sein könnte, berichtete anschließend "die tageszeitung” über das Treffen. Roxanna-Lorraine Witt hat Mitte Juni einen Protest gegen den Bau in Berlin mitorganisiert. "Das Mahnmal ist eine Grabstätte für die Menschen, deren Asche noch in Auschwitz verweht. Das ist etwas Heiliges, nicht nur für Roma und Sinti, sondern für alle Menschen", sagt die Aktivistin. Sie ist empört, dass die nähere Zukunft des Denkmals für Sinti und Roma "verhandelbar" sei. Das sei bei anderen Denkmälern und Gebäuden ja auch nicht der Fall.
Nach dem Aufruhr in Berlin und im Internet unter dem Hashtag #dasdenkmalbleibt zeigt sich die Deutsche Bahn einsichtig: Das Denkmal werde "nicht angetastet," versichert der DB-Konzernbevollmächtigte Alexander Kaczmarek in einer Pressemitteilung. Man sei noch in einer frühen Planungsphase und weit entfernt von gesetzlichen Genehmigungsverfahren. Doch darüber, wie es erst zu dem Eklat kommen konnte, möchte die Deutsche Bahn der DW kein Interview geben.
Erneute Diskriminierung?
Für Witt steht der Umgang der Deutschen Bahn mit dem Denkmal stellvertretend für die tägliche Diskriminierung, welche viele Roma und Sinti bis heute erfahren. Gerade die Deutsche Bahn, deren Vorgängergesellschaft, die Deutsche Reichsbahn, im Dritten Reich an den Transporten von Opfern in die Konzentrationslager maßgeblich beteiligt war, müsste mehr Sensibilität für das Opfergedenken zeigen, so die Aktivistin.
Für Romani Rose ist der Eklat um den S-Bahn-Bau eine Folge der jahrzehntelangen Verdrängung des Genozids an Roma und Sinti. "Ich glaube, dass einige der Institutionen sich immer noch zu wenig mit diesem Teil der Geschichte auseinandergesetzt haben", sagt Rose. "Es war ein eigenständiger Völkermord im Sinne der Rassenideologie der Nazis".
Nach den Protesten der Roma und Sinti hat auch der Berliner Senat Gespräche über den zukünftigen Trassenverlauf der S-Bahn angekündigt. "Unser Ziel ist es, einerseits möglichst schnell die Trasse zu bauen und andererseits den maximalen Schutz des Denkmals zu gewährleisten", sagt Ingmar Streese, Berliner Staatssekretär für Verkehr. Nach der Sommerpause sollen die Gespräche fortgeführt werden.
Bebauung könnte Chance sein
Neben Bahn- und Bundestagsvertretern sitzt nun auch Romani Rose mit am Gesprächstisch. Wenn es keine Alternativen zur Umsetzung gebe, wolle sich der Zentralrat den Baumaßnahmen nicht verschließen, sagt Rose. Doch eine temporäre Lösung müsse dem "Gedenken gerecht werden" und "die Verantwortung zum Ausdruck bringen".
Was könnte das praktisch bedeuten? Paradoxerweise bieten die unterirdischen Bauarbeiten auch die Chance, eine langjährige Forderung des Zentralrats zu erfüllen - nämlich zusätzlich zum Denkmal ein Informationszentrum zu bauen. Das könnte man nun unter der Erde machen, ähnlich wie beim 2005 errichteten "Denkmal für die Ermordeten Juden Europas". Mehr Aufklärung, so Romani Rose, könne dann vielleicht auch einem zukünftigen Streit um das Denkmal vorbeugen.