"Das willst du gar nicht wissen"
8. April 2018Die Sonne leuchtet vom blauen Himmel. Doch der eisige Wind lässt frösteln, ebenso wie die Vorstellung davon, was hier geschehen ist. Wo einst zehntausende Menschen in Baracken eingepfercht waren, ragen Kamine und Mauerreste anklagend in den Himmel. Endlose Stacheldrahtzäune durchschneiden das weite Gelände. Dahinter Birkenwälder, die Auschwitz-Birkenau den Namen gaben. Von den Gaskammern und Krematorien, in denen hunderttausende Menschen getötet und verbrannt wurden, stehen nur noch Trümmer. Die Täter sprengten sie, bevor russische Truppen im Januar 1945 Auschwitz erreichten und das Morden endete.
"Ade, lieb Heimatland"
Fast zwei Millionen Besucher kommen jährlich ins Museum Auschwitz-Birkenau. An diesem Morgen ist es ruhig. 30 Besucher aus Baden-Württemberg im Südwesten Deutschlands laufen auf den Spuren der Häftlinge über die lange Lagerstraße zum ehemaligen "Zigeunerlager" im Abschnitt BIIe.
Am Denkmal für die ermordeten Sinti und Roma aus Europa legen sie weiße Rosen nieder für die Menschen, die vor 75 Jahren aus Stuttgart nach Auschwitz deportiert wurden. Unter ihnen: Bobby Guttenberger aus Ravensburg. Seine Großeltern waren hier eingesperrt. Ihre Angehörigen starben, sie überlebten.
Als die Ravensburger abgeholt wurden, sang eine alte Frau: "Nun ade, du mein lieb' Heimatland". Eine Heimat, die verstieß und tötete: Sinti und Roma leben seit 600 Jahren in Europa. Die deutschen Sinti kämpften im Ersten Weltkrieg für das Kaiserreich, später in der Wehrmacht, bis sie im Nationalsozialismus aus "rassenpolitischen Gründen" entlassen wurden.
"Ich bin Deutscher. Deutscher mit einer anderen Kultur", hat Bobby Guttenberger am Vortag erklärt. Mitreisende hatten ihn gefragt, ob er die deutsche Staatsangehörigkeit habe. "Wie kommen Sie auf die Frage?", hakte er irritiert, aber sehr freundlich nach. Er schätzt die Offenheit und Herzlichkeit bei der Gedenkreise der Evangelischen Akademie Bad Boll von Stuttgart nach Auschwitz. Dass manche so wenig über Sinti wissen, hat ihn überrascht. Umso wichtiger ist ihm der Austausch.
"Was hast Du da für ein Tattoo?"
Sinti sind seit jeher Deutsche. Sie pflegen - ähnlich wie Friesen oder Sorben - eine eigene Sprache: Romanes. Sie haben "eine andere Musikgeschichte und vielleicht ein engeres Zusammenleben der Familie, als man es von Nicht-Sinti kennt", sagt Bobby Guttenberger. Er hat sich nach seiner Schulzeit monatelang um die in Auschwitz traumatisierte Großmutter Martha gekümmert: "Das ist in mir drin."
Als Kind fiel dem Enkel der Schriftzug "Z 5656" auf ihrem Arm auf, erinnert er sich. "Was hast du da für ein Tattoo?", fragte er. "Das haben mir die Nazis verpasst, das war meine Nummer, mein Stempel", antwortete sie. Doch als er nach ihren Erlebnissen fragte, wehrte sie ab: "Das willst du gar nicht wissen, was da passiert ist."
Seine Oma, seine ganze Familie habe immer versucht, die Kinder zu behüten, berichtet Bobby Guttenberger. Ihre größte Angst war, dass sich die Verfolgung der Minderheit wiederholen könnte. Viele Verwandte hätten heute noch Angst. "Es ist ja nicht lange her", sagt er, "sind ja nur 75 Jahre."
"Grauer Schleier über der Seele"
Der 31-Jährige arbeitet im Familienbetrieb - Containerdienst, Metall- und Antiquitätenhandel, Möbelrestauration - und spielt Gitarre in einer Band. Vater und Mutter sind gesundheitlich angeschlagen, er arbeitet viel. Trotzdem hat er sich frei genommen, um als Erster aus seiner Familie nach Birkenau zu reisen: "Ich habe das Gefühl gehabt, das muss jetzt einfach sein." Er will wissen und spüren, was geschehen ist.
Es ist "eine Reise in die Melancholie", das ahnt er schon auf dem Hinweg. In Auschwitz litten seine Großeltern und andere Familienangehörige unter der mörderischen Gewalt der deutschen Befehlshaber, die meisten starben. Der Besuch wird ihm einen "grauen Schleier über die Seele" legen.
Der Boden "mit Blut durchdrungen"
An diesem Morgen im Frühjahr 2018 ist Birkenau ganz still. 1943 prägten Schreie der Aufseher, Hundegebell, Schläge, Schüsse und Sterben die Tage im Lager, so berichteten Überlebende. Der Boden sei "mit Blut durchdrungen". Am Denkmal in Birkenau liest Reiseleiter Andreas Hoffmann-Richter aus den Erinnerungen von Hildegard Franz vor. Sie war eine der wenigen Überlebenden aus Ravensburg. Vor der NS-Verfolgung arbeitete sie bei der Stadt: "Wir Sinti haben alle gearbeitet."
Doch nationalsozialistische Rassenforscher um den Arzt Robert Ritter und die Krankenschwester Eva Justin reisten durch alle Lande, um "Zigeuner" und "Zigeunermischlinge" zu registrieren und zu vermessen: "die Augen, die Nase, alles". Sie erforschten Verwandtschaftsverhältnisse und werteten kirchliche Taufregister aus. Die pseudowissenschaftlichen "Rassengutachten" schufen die Grundlage für Ausgrenzung, Verfolgung und Ermordung.
"Das kann sich niemand vorstellen"
Wen die Rassenforscher als "minderwertig" einstuften, wurde nach dem "Auschwitz-Erlass" von "Reichsführer SS" Heinrich Himmler deportiert. 23.000 Angehörige der Minderheit aus elf Ländern wurden nach Birkenau verschleppt, jeder Zweite jünger als 16 Jahre, die wenigsten kamen zurück. Viele Babys, Alte und Kranke starben schon unterwegs in überfüllten Viehwaggons. Die Minderheit war nirgendwo sicher. In vielen europäischen Ländern gab es Massenerschießungen und Deportationen in "Vernichtungslager".
Die Familie von Martha Guttenberger wurde aus Mosbach, ihr späterer Mann Julius aus Ravensburg-Ummenwinkel deportiert. Hier hatte die Stadt Sinti-Familien in ein Baracken-Lager hinter Stacheldraht gesperrt und streng bewacht. Im März 1943 wurden Männer, Frauen und Kinder deportiert. Einige konnten bleiben, man hielt sie für "arisch". Doch sie sollten zwangssterilisiert werden, man wollte die Minderheit endgültig auslöschen.
In Auschwitz misshandelten SS-Leute die Häftlinge, die an schrecklichem Durst, Hunger und Krankheiten litten. Hildegard Franz verlor ihre kleinen Töchter: "Innerhalb von zehn Wochen starben unsere vier Kinder. Meine kleinen Mädchen waren drei und zwei Jahre alt, die Kleinste erst sieben Monate. Der kleine Junge von meiner Schwester war auch erst zwei Jahre alt. Das kann sich niemand vorstellen, wie die Menschen dort gestorben sind... Die Toten wurden zum Krematorium gebracht. Wir sahen das Feuer, das Tag und Nacht brannte; wir lebten mit dem Geruch."
Erinnerung an sterbende Kinder
Bei Verdacht auf ansteckende Krankheiten wurden Gruppen ankommender Sinti und Roma sofort ermordet. Meist aber kamen Angehörige der Minderheit familienweise ins sogenannte "Zigeunerlager". Sie mussten sich ausziehen, wurden desinfiziert, man tätowierte ihnen die Häftlingsnummer auf den Arm, bei Babys auf den Oberschenkel. Man machte sie zu Nummern mit einem "Z" für "Zigeuner", genau wie bei Großmutter Martha.
Gerade ihr Schweigen habe ihm ihren Schmerz vermittelt, sagt Bobby Guttenberger: "Die Jahre haben ihr alles genommen." Natürlich habe es auch schöne Familienzeiten gegeben. Seine Oma aber sei oft in sich gekehrt gewesen, grübelte oder weinte still. In Birkenau arbeitete sie im Kinderblock. In der Nähe war das Versuchslabor, wo SS-Arzt Josef Mengele Kinder qualvollen Experimenten unterzog und viele tötete. Die Erinnerung an weinende und sterbende Kinder verfolgte Martha Guttenberger bis zu ihrem Tod.
Nicht vergessen
Hildegard Franz ging es ähnlich: "Ein kleiner Junge, vielleicht sieben Jahre alt, ist draußen auf der Lagerstraße gelaufen, auf den hat ein SS-Mann einfach geschossen. Der kleine Junge hielt mit beiden Händen seinen Bauch zusammen und kam in den Block gelaufen, dort ist er tot zusammengebrochen." Am schlimmsten sei gewesen, dass die Erwachsenen den Kindern nicht helfen konnten: "Ich will nicht mehr daran denken, aber es geht nicht, niemals. Ich kann es nicht vergessen."
Vergessen dürfen wir auch heute nicht, sagen die Teilnehmer der Gedenkreise, sagt auch Bobby Guttenberger. Helfen könnten Jahrestage oder auch der Welt-Roma-Tag: "Wichtig ist einfach, dass das nie wieder passieren darf." Bei allem Schmerz findet er die Reise nach Auschwitz trotzdem "sehr gut".
Sein Grundschulfreund Muhsin Aksoyan, der ihn begleitet, sieht das ähnlich. Seine Eltern kamen aus der Türkei nach Deutschland. Die Behandlung des Holocaust in der Schule war ihm viel zu oberflächlich. Ins Gedenkbuch von Block 13 im Stammlager Auschwitz, wo die Verfolgung der Sinti und Roma dokumentiert ist, schreibt er: "Wer seine Vergangenheit nicht kennt, hat keine Zukunft."
Die Asche der Ermordeten
Auschwitz-Birkenau ist nicht nur Museum sondern auch Friedhof: für Juden, Polen, sowjetische Kriegsgefangene wie auch Sinti und Roma. Die Asche der Toten wurde in Flüsse geschüttet, im Straßenbau eingesetzt oder als Dünger. Sie wurde vergraben oder in Gruben geschüttet, die sich mit Wasser füllten. 1,1 Millionen Grabsteine bräuchte man für alle Ermordeten. An den Orten der Massengräber in Birkenau stehen je vier Steine, die an die Toten erinnern, auf Hebräisch, Englisch, Polnisch und Romanes.
"Wir sind über Berge von Leichen gelaufen", überlegt Bobby Guttenberger erschüttert, "ich kann es gar nicht in Worte fassen. Ich glaube, jede Träne erzählt mehr als ein Wort." Die gemeinsame Erfahrung von Schmerz und Trauer, sagt er im Rückblick, habe die Teilnehmer der Gedenkreise zusammengeschweißt: "Sinti oder Nicht-Sinti ... da zählt einfach nur der Mensch."
1,1 Millionen Tote. In Birkenau spüre man "die Anwesenheit der Abwesenheit", sagt der katholische Theologe Manfred Deselaers in einer Reflexionsrunde für die Stuttgarter Gruppe. Bobby Guttenberger kann das nachempfinden: "Obwohl dieser Ort so still war, hat man trotzdem diese Menge gespürt."
Das Ende des "Zigeunerlagers"
Im Mai 1944 brauchte man in Auschwitz-Birkenau Platz für Juden aus Ungarn. Die Befehlshaber wollten alle Insassen des "Zigeunerlagers" ermorden. Die Sinti und Roma wurden gewarnt. Mit Werkzeugen, Steinen und allem, was sie kriegen konnten, verschanzten sie sich in den Baracken, fest entschlossen, um ihr Leben zu kämpfen. Für diesen Tag zog sich die SS zurück.
In den nächsten Wochen konnten sich entlassene Wehrmachtsangehörige unter den Gefangenen wieder an die Front melden, dann kämen auch ihre Angehörigen in andere Lager. 2900 Häftlinge blieben übrig: Kinder und ihre Mütter, die sie nicht im Stich lassen wollten, Kranke und Alte. In der Nacht vom 2. auf den 3. August wurden sie in den Gaskammern ermordet. Jedes Jahr erinnern Sinti und Roma aus ganz Europa in Birkenau an diese Mordnacht.
Nach dem Krieg: Die Täter geben den Ton an
Die Großeltern Guttenberger gehörten zu denen, die aus Auschwitz in andere Lager verlegt wurden. Nach der Befreiung am Kriegsende ging die junge Martha, die Eltern und Geschwister verloren hatte, nach Ravensburg, wo sie Julius Guttenberger heiratete. Unterstützung oder gar Entschädigung für ihre Verfolgung erhielten die Überlebenden gar nicht oder erst sehr viel später. Der rassistische Völkermord an den Sinti und Roma wurde erst 1982 anerkannt.
Vorher mussten sich die traumatisierten Überlebenden von Behörden, Gutachtern und Richtern bis hinauf zum Bundesgerichtshof sagen lassen, sie seien nur wegen ihrer "kriminellen Veranlagung" verfolgt worden. Die Richter charakterisierten sie als "primitive Untermenschen".
Die Polizei arbeitete weiter mit "Zigeunerakten", die Täter gaben den Ton an. Überlebende berichteten: "Da saßen die gleichen Leute auf dem Amt, die uns damals ins KZ geschickt haben." Die "Rassenforscher" Ritter und Justin konnten unbehelligt bei der Stadt Frankfurt arbeiten.
"Er ist weiß, da bin ich glücklich"
Verfolgte wie die Guttenbergers mussten sich mühsam eine neue Existenz aufbauen. Die Sinti lebten wieder im Ummenwinkel, Bobby Guttenberger ist hier groß geworden. Reiseleiterin Doris Graenert erinnert sich an seine Großmutter. Sie lernte sie kennen, als sie vor mehr als 30 Jahren begann, sich für die Internationale Jugendbegegnungsstätte in Oswiecim/Auschwitz zu engagieren. Im Museumsarchiv suchte sie nach Namen von Überlebenden und nahm Kontakt zu ihr auf. Sie erzählt ihrem Enkel, wie sich seine Oma bei seiner Geburt freute: "Er ist weiß, da bin ich glücklich."
Vor 75 Jahren hätte Bobby Guttenberger zu den Verfolgten gehört. "Ich bin so froh, dass es Bobby gibt und er mit uns diesen Weg gegangen ist", sagt Hanna Stauß (20), die jüngste Teilnehmerin der Gedenkreise. Die vielen jungen Besucher aus aller Welt in Auschwitz machen ihr Mut.
Mut ist wichtig, denn wie die meisten Sinti und Roma kennt auch Bobby Guttenberger Beschimpfungen als "Zigeuner", Diskriminierungen bei Bewerbungen oder auf dem Wohnungsmarkt. Er spricht sehr sachlich und reflektiert darüber, verallgemeinert nie und hat viel Verständnis für diejenigen, die es nicht besser wissen. Warum aber Menschen Parteien mit völkischen Ideologien folgen, versteht er nicht: "Können die nicht weiterdenken, dass diese Zeit das Schlimmste ist, was je passieren konnte?"
Mahnung der Zeitzeugen
Doris Graenert hat viele Zeitzeugen kennengelernt. Henryk Mandelbaum musste als jüdischer Häftling Menschen in die Gaskammern bringen, nach ihrem qualvollen Ersticken die Toten bergen, Goldzähne herausbrechen, Leichen verbrennen. "Das Herz ist einem geplatzt", erinnerte er sich später.
Er gab Graenert einen Auftrag: "Du bist eine Zeitzeugin der Zeitzeugen. Es ist deine Aufgabe, die Zeitzeugenschaft weiterzugeben an Jugendliche und Erwachsene mit der Auflage, dass sie ihre Zeitzeugenschaft ebenso weitergeben. Dadurch wird unsere Erfahrung über Generationen weiterbestehen als Mahnung: 'Wehret den Anfängen'."
Ein Freund von Bobby Guttenberger aus Ravensburg hat ein Denkmal für die Gedenkstätte Buchenwald angefertigt: eine Edelstahlplatte, die Tag und Nacht, Sommer und Winter auf 37 Grad erwärmt wird. Das spreche für sich, sagt Bobby Guttenberger, "dass jeder Mensch die gleiche Temperatur hat, ob er schwarz, gelb, blau oder grün aussieht, ob er zu einer Minderheit gehört oder nicht - dass jeder Mensch gleich viel wert ist."