"Ich spüre den Antiziganismus selbst"
23. September 2020DW: Sie kämpfen gegen Antiziganismus in der EU, also gegen die Diskriminierung von Sinti, Roma und weiterer Minderheiten. Worum geht es bei Ihrer neuen Initiative?
Romeo Franz: Mein Initiativbericht über die Situation der Menschen mit Romani-Hintergrund wurde mit einer fast 80-prozentigen Zustimmung des Parlaments angenommen. Der Bericht beinhaltet einen Rückblick auf die vergangenen zehn Jahre der "Roma-Integration", die kein großer Erfolg war. Der Grund: Die Integrations-Strategien und Aktionspläne, deren Umsetzung Brüssel übertragen hat an die Nationalstaaten, waren freiwillig. Selbst Deutschland hat den nationalen Aktionsplan nicht umgesetzt. Freiwilligkeit hilft überhaupt nicht.
Wir brauchen einen Plan mit verbindlichem Charakter. Das wollte im Parlament kaum jemand unterstützen. Ich habe es juristisch prüfen lassen. Das Gutachten besagt, dass eine Verbindlichkeit möglich ist.
Wichtig ist: Die Nationalstaaten müssen Antiziganismus bekämpfen, damit Pläne zur Inklusion funktionieren. Den Begriff "Integration" lehne ich ab, weil Integration sich für jede marginalisierte Minderheit anhört wie Assimilierung. Hier aber geht es um gleichberechtigte Teilhabe. Deswegen fordere ich, dass wir von Inklusion sprechen.
Ein ganz wichtiger Punkt ist, dass die Heterogenität unserer Menschen mit Romani-Hintergrund endlich gesehen wird. Denn es gibt nicht nur Roma und Sinti, es gibt die Kale, Manousch, Lovara, Kalderasch und noch viele mehr. Wir haben 200 Dialekte. Diese Heterogenität wurde nie gesehen. Die Bedarfe unserer Menschen sind total verschieden.
Ich fordere das Recht auf Selbstbestimmung der Minderheit, denn wir können selbst sagen, wie wir heißen und wer wir sind. Das müssen wir uns nicht von der Mehrheitsgesellschaft, der Kommission oder Institutionen vorschreiben lassen. Wenn meine Resolution in den neuen Plan mit einfließt, ist das revolutionär.
Der Kampf gegen Antiziganismus muss prioritär sein und die Nationalstaaten müssen gesetzlich dazu verpflichtet werden, diese Inklusionspläne umzusetzen. Die Betroffenen müssen von Anfang an auf allen Ebenen gleichberechtigt und auf Augenhöhe einbezogen werden mit der Heterogenität der größten Minderheit Europas, mit zwölf Millionen Menschen in Europa und 6,3 Millionen in der EU.
Wo gibt es Erfolge?
Wenn man ehrlich ist, könnte ich kaum ein Land nennen, das besonders vorbildlich ist. Es gibt einzelne gute Beispiele in Deutschland: Der Staatsvertrag in Baden-Württemberg zwischen dem Land und dem Verband Deutscher Sinti und Roma Baden-Württemberg ist eine Blaupause für die Zukunft Europas beim Thema Romani-Politik.
Dieser Staatsvertrag ist zu einem Gesetz geworden. Das beweist, dass Verbindlichkeit in den europäischen Nationalstaaten möglich ist. Solange aber die betroffenen Menschen nicht gleichberechtigt einbezogen werden, können wir nicht davon sprechen, dass wir irgendwo erfolgreich sind.
Was muss konkret geschehen?
Die Mehrheitsgesellschaft und ihre Institutionen müssen sich selbst mit ihrem Rassismus, mit ihrem Antiziganismus konfrontieren. Das Thema Antiziganismus, aber auch die Geschichte der Menschen mit Romani-Hintergrund sind immer noch kein Thema in den Lehrplänen. Das bedeutet, dass auch unsere Lehrer und Lehramtsanwärter mit diesem Thema beschult werden müssen, um Erfolg zu haben.
Wir reden von einer Arbeit, die Generationen dauern wird. Aber wir müssen den Anfang machen. Denn wenn wir weiter Antiziganismus tabuisieren und ignorieren, so wie das seit Jahrhunderten in Europa stattfindet, werden wir keine Verbesserungen in dieser Sache haben, sondern es werden immer nur Lippenbekenntnisse sein und kleine Strohfeuer.
Wo ist es gerade besonders schwierig für Mitglieder der Minderheit?
Gerade in den osteuropäischen Ländern - wie Rumänien, Bulgarien, in der Slowakei, in Tschechien - hat COVID-19 gezeigt, dass die Minderheit der Menschen mit Romani-Hintergrund wieder zu Sündenböcken gemacht worden sind als Überbringer von COVID-19. Sie wurden in ihren segregierten Wohnvierteln eingesperrt, hatten kaum Zugang zu sauberem Trinkwasser oder Gesundheitsversorgung. Wenn sie sich etwas zu essen holen wollten, wurden sie von der Polizei zusammengeschlagen: Kinder, Frauen, Männer - auf brutalste Weise.
Ich habe Videos, die mir zugesandt wurden, gesammelt und der zuständigen EU-Kommissarin Helena Dalli geschickt, um ihr zu zeigen, wie die Realität aussieht. Sie war sehr erschüttert und hat mir gesagt: Wir werden, sobald es COVID-19 zulässt, in diese Brennpunkte fahren, um mit den Menschen zu sprechen. In Osteuropa sehe ich eine massiv gefährliche Situation für unsere Menschen mit Romani-Hintergrund. Da ist eine Ablehnung, ich würde schätzen von 90 bis 95 Prozent der Mehrheitsgesellschaft.
Selbst in Italien lehnen 80 Prozent der italienischen Mehrheitsbevölkerung Sinti und Roma ab. Sie können davon ausgehen, dass das in Osteuropa noch wesentlich höher ist.
Würde es helfen, wenn sich mehr Mitglieder der Minderheit wie Sie outen, sich also zu ihrem Romani-Hintergrund bekennen, um Antiziganismus zu bekämpfen?
Ich spüre den Antiziganismus selbst als Europa-Abgeordneter an meinem eigenen Wohnort: Menschen sehen mich nicht als Europa-Abgeordneten, sondern als "Zigeuner". Das erlebe ich tagtäglich und meine Kinder erleben das auch. Das heißt, die gesellschaftliche Position ändert nichts. Sie sind vom Antiziganismus, wenn Sie geoutet sind, in egal welcher Position Sie sind, genauso betroffen. Deswegen kann man auch schlecht als Vorbild sagen: Bring es zu etwas und Du wirst nicht diskriminiert. Das stimmt nicht.
Im Nationalsozialismus hat Eva Justin das in ihren pseudowissenschaftlichen Studien zu den Sinti-Kindern in Mulfingen gezeigt (die später nach Auschwitz deportiert und ermordet wurden, Red.): Wenn Kinder besonders fleißig und erfolgreich waren beim Kartoffeln sammeln oder Murmelspielen, dann hat das die Verschlagenheit bewiesen. Wenn Sie es nicht konnten, dann hat das ihre fehlende Intelligenz bewiesen. Das geht uns heute genauso. Das ist unglaublich tiefsitzend.
Romeo Franz (Bündnis 90/Grüne) sitzt seit 2018 als erster deutscher Sinto im Europäischen Parlament. Für das Mahnmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma Europas in Berlin komponierte der Musiker die Melodie "Mare Manschenge". Seine Großmutter und Mutter überlebten den Holocaust an den Sinti und Roma, sechs Familienangehörige starben in Auschwitz.
Das Interview führte Andrea Grunau.