Man kann Bundeskanzlerin Angela Merkel nicht vorwerfen, dass sie nicht alles getan hätte, um einen Sinneswandel in Peking herbeizuführen. Ein Dutzend Reisen nach China während ihrer 16-jährigen Amtszeit zeugen von ihrem Glauben an das Prinzip "Wandel durch Handel".
Deutsche Unternehmen haben Milliarden von Euro in China investiert und dringend benötigtes Fertigungs-Know-how in ein Land gebracht, das sich rasant entwickelt. Hoch subventionierte chinesische Firmen hatten lange Zeit freie Bahn auf den europäischen Märkten, und viele von ihnen übernahmen hier schließlich strategisch wichtige Unternehmen. Die Hoffnung war, dass enge Wirtschaftsbeziehungen Peking dazu bewegen würden, seine autoritäre Politik aufzugeben und liberale, demokratische Werte zu übernehmen.
Peking bei Laune halten
Merkels Hätschel-Kurs ist jedoch kläglich gescheitert, denn Peking hat sich unter Präsident Xi Jinping zum Schlechten gewandelt. Es begeht ungestraft Menschenrechtsverletzungen gegen die muslimische Minderheit der Uiguren in Xinjiang, unterdrückt pro-demokratische Aktivitäten in Hongkong, baut illegale Inseln im Südchinesischen Meer, schikaniert Regierungen mit Handelskriegen und überzieht arme Länder mit Schulden.
Merkels großes Versagen liegt darin, dass sie nicht erkannte, wann sie hätte aufhören sollen, Peking zu hofieren, wann eine rote Linie hätte ziehen müssen. Selbst auf ihrer letzten offiziellen Reise nach China versuchte sie noch, die Handelsbeziehungen zu stärken, und wurde von einer großen Delegation deutscher Wirtschaftsführer begleitet, während zeitgleich in Hongkong die Pro-Demokratie-Proteste tobten.
Systemischer Konkurrent
Der Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI), für dessen Interessen Merkel in Peking geworben hatte, bezeichnete China bereits 2019 als "systemischen Konkurrenten" und kam zu dem Schluss, dass sich das Land "in absehbarer Zeit weder zu einer Marktwirtschaft noch zum Liberalismus entwickeln wird".
Aber Merkel führte ihre Politik der Annäherung fort, und setzte zuletzt einen Investitionspakt zwischen der Europäischen Union und China durch, obwohl China die Konventionen der Internationalen Arbeitsorganisation (ILO) über Zwangsarbeit nicht ratifiziert hat. Menschenrechtsgruppen hatten dies angesichts der angeblichen Sklavenarbeit in Xinjiang gefordert.
Stärkere China-Politik
Jetzt, da Merkel aus dem Amt scheidet, muss Berlin die Gelegenheit nutzen und eine schärfere Position gegenüber China einnehmen. Deutschland mit seiner eigenen erschütternden Geschichte der Nazi-Verbrechen sollte versuchen, eine Allianz mit gleichgesinnten Ländern, einschließlich der Vereinigten Staaten und Japan, aufzubauen, um Peking für die Unterdrückung der Menschenrechte zur Verantwortung zu ziehen.
Die Beibehaltung des Status quo ist keine Option. Die neue Regierung wird zunehmend unter Druck geraten, Peking zu verurteilen und zu handeln. Die prinzipiell harte Haltung Berlins gegen alles, was den Grundwerten der EU zuwiderläuft, sollte die Mitgliedsstaaten, die von Merkels "Geschäfte-um jeden-Preis"-Ansatz frustriert sind, zusammenbringen und der Union helfen, endlich eine gemeinsame Politik gegenüber dem neuen Machtzentrum in Asien zu verfolgen.
Chinas Bluff durchschauen
Ein großer Teil von Merkels Strategie war getrieben von der Angst vor einer möglichen chinesischen Gegenreaktion gegen deutsche Unternehmen, die auf einem der lukrativsten Märkte der Welt tätig sind. Vielleicht war der Kanzlerin nicht klar, dass Deutschland mehr Einfluss auf China hat, als es selbst glaubt. Und dieser Einfluss nimmt um ein Vielfaches zu, wenn Berlin mit seinen Verbündeten zusammenarbeitet.
China ist zwar mit einem jährlichen Handelsvolumen von mehr als 200 Milliarden Euro Deutschlands größter Handelspartner, aber nicht das wichtigste Zielland für deutsche Exporte. Mit anderen Worten: Deutschland kauft mehr Produkte aus China, als China in Deutschland einkauft. Deutsche Unternehmen beschäftigen mehr als eine Million Menschen in China.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung aus dem Jahr 2015 kommt zu dem Schluss, dass "Deutschland nicht - wie allgemein angenommen - wesentlich stärker von China abhängig ist als China von Deutschland". Die chinesische Konsumgüterindustrie, deren kostengünstige Produkte das Land zu einem globalen Exportmeister gemacht haben, wird weitgehend von deutschen Maschinen angetrieben. Deutschland könnte die meisten Produkte, die es aus China bezieht, leicht durch Importe aus anderen Ländern ersetzen.
Peking kann sich keinen Streit mit Europa leisten
Es ist auch wichtig zu wissen, dass die chinesische Wirtschaft, die von der Globalisierung enorm profitiert hat, heute mehr denn je mit anderen Volkswirtschaften verflochten ist. Das bedeutet, dass jeder Schaden, den Peking einem Handelspartner zufügt, ziemlich sicher auch im eigenen Land zu spüren sein wird.
China ist noch nicht am Ende mit dem Abschöpfen geistigen Eigentums von westlichen Firmen und dem Erwerb von wichtigem technologischen Know-how. Es braucht nämlich noch mehr Wissen, um das Ziel von Präsident Xi, eine Hightech-Supermacht zu werden, zu verwirklichen. Deshalb kann China es sich nicht leisten, einen Streit mit der EU anzuzetteln, deren Technologien und Kapital Chinas Wachstum untermauert haben. Zumal sich die Beziehungen zu den USA und Australien aktuell ja verschlechtern.
Aufgrund von Merkels Obsession, Peking unbedingt bei Laune zu halten, haben wirtschaftliche Interessen schon viel zu lange Vorrang vor Werten. Es ist Zeit, dass sich das ändert.