Demokratiekrise auf dem Balkan
1. März 2017Viele Krisensymptome, die die europäischen Demokratien zurzeit erleben, haben sich bereits seit mehreren Jahren im Südosten des Kontinents entwickelt, ausgeprägt und verfestigt: Die Krise der Demokratie in Südosteuropa sei für jeden sichtbar und die "Idee eines liberaldemokratischen Konsens besteht nicht mehr", sagt Florian Bieber vom Zentrum für Südosteuropastudien der Universität Graz, der zusammen mit anderen Balkanexperten bei einem Symposium der Südosteuropa-Gesellschaft in Halle über dieses Thema diskutierte.
Diese Krise sei aber keine Folge einer akuten Depression, betont Michael Hein, Professor an der Humboldt-Universität in Berlin, sondern habe sich in einem langen negativen Prozess entwickelt. Hein hat mehrere Statistiken und Indikatoren ausgewertet, die Demokratie nach verschiedenen Entwicklungs-, Rechtsstaats- und sozialen Parametern messen. Überall zeigt sich die gleiche Tendenz: Alle Länder Südosteuropas, mit Ausnahme von Kosovo, und zwar unabhängig davon, ob sie EU-Mitglieder sind oder nicht, verzeichnen in den vergangenen zehn Jahren einen steten Abwärtstrend. Dies betreffe die objektive Verschlechterung. Aber auch bei den subjektiven Parametern, wie etwa dem Vertrauen der Bürger in Parlamente und gesellschaftliche Institutionen, zeige sich die gleiche Tendenz.
Bei den Staaten der Region, die noch nicht Mitglieder der Europäischen Union oder - wie Kroatien - erst kurz dabei sind, geht die Krise der Demokratie mit einer grundsätzlicheren Werte- und Orientierungskrise einher. Und in dieser Verunsicherung bieten starke Führungspersönlichkeiten Halt - oft mit einfachen, aus der nationalen Geschichte abgeleiteten Botschaften. Und der Nationalismus schweiße die Gemeinschaften unter den zwar demokratisch gewählten, aber autokratisch handelnden Führern zusammen, so Bieber.
Eine neue Herrschaftsform auf dem Balkan
So habe sich in den Ländern des westlichen Balkans eine neue Herrschaftsform breitgemacht, meint Vedran Dzihic, Politologe aus Wien: autoritär führen, nationalistisch argumentieren, neoliberal wirtschaften. Die so agierenden Politiker zeichne ein "unglaublicher Machtpragmatismus" aus und sie verhielten sich nach dem Vorbild des türkischen Präsidenten Erdogan. Die Demokratie ist dann lediglich ein Mittel zum Zweck, aber nicht das Ziel. Sie benutzten die demokratischen Instrumente und setzten diese gleichzeitig de facto außer Kraft.
So sei etwa der serbische Premier Aleksandar Vucic ein Prototyp des Politikers, der "messianisch und narzisstisch " agiere. Dem Wahlvolk werde suggeriert, zur Lösung der Krise bedürfe es einer starken Hand, sagt Dzihic. Und so entstehe die Monopolisierung der Macht über eine Führerpersönlichkeit. Staatliche Institutionen werden praktisch außer Kraft gesetzt. Das System funktioniere auch deshalb, weil ständig eine nationale Krise beschworen werde. Dies gelte auch für die Wirtschaftspolitik, bei der eine "Ich schaffe das, ich mache das"-Rhetorik den Menschen vorgaukele, Aufschwung zu erzeugen, an dem sie partizipieren können. In Wirklichkeit profitierten von der Klientel-Politik aber auch wirtschaftlich nur die engen Machtzirkel.
Die EU muss engagiert bleiben
Dzihic ist trotzdem davon überzeugt, dass es eine Möglichkeit gibt, diese negative Tendenz und die sich verfestigenden autokratischen Strukturen zu durchbrechen. Wichtig wäre, dass sich die Menschen gegen offensichtliche Misstände wehren. Der Widerstand gegen das gigantische Bauprojekt "Belgrad am Wasser" habe dies gezeigt, ebenso wie die bunte Revolution gegen Korruption und Machtmissbrauch in Mazedonien. Doch solche zivilgesellschaftliche Bewegungen benötigten mehr Unterstützung. Das jüngste Beispiel der Proteste in Rumänien zeige, wie eine erwachende Zivilgesellschaft die Regierung zur Rückkehr zu rechtsstaatlichen Prinzipien zwingen könne. Dzihic fordert, mehr "Allianzen mit freiheitlichen und demokratischen Kräften" zu schließen. Auch gegen die wachsende Medienkonzentration in den Händen der politischen Eliten brauche es Mut, Konstruktivität und zivile Formen des Widerstands.
In der Unterstützung der Zivilgesellschaft und unabhängiger Medien sieht auch Natasha Wunsch Möglichkeiten, die antidemokratischen Tendenzen aufzubrechen. Die in Zürich lehrende Politikwissenschaftlerin beklagt eine "eindeutige Abkehr von der positiven EU-Zuwendung" in den Westbalkan-Ländern: "Die Rückschritte in der Demokratisierung und die Erweiterungsmüdigkeit in der EU verstärken einander". Das Konzept der Integration durch Demokratisierung sei obsolet geworden, denn Europäisierung und Demokratisierung der Länder seien voneinander entkoppelt. Die EU müsse Demokratiebrüche explizit abmahnen und gleichzeitig Mechanismen zur Förderung von Demokratie und Zivilgesellschaft aufbauen. Mit Austausch- und Bildungsprogrammen könne, so Wunsch, wieder ein positives Gesamtbild von Demokratisierungsfortschritten und europäischer Integration entstehen.
Zwei Bereiche - so das einhellige Urteil der Experten - bedürfen der besonderen Beobachtung: Rechtsstaatlichkeit und Pressefreiheit. Hier gebe es die alarmierendsten Fehlentwicklungen und hier müssten schnell und entschieden Verstöße benannt und positive Unterstützungs- und Fördermaßnahmen eingeleitet werden. Sonst entfernen sich die Länder Südosteuropas noch weiter von der europäischen Wertegemeinschaft und die Mitgliedschaft in der EU rückt in unerreichbare Ferne.