EURO 2024: Gibt es ein neues Fußball-Sommermärchen?
7. Juni 2024Was versteht man unter dem Sommermärchen 2006?
Während der Weltmeisterschaft 2006 stand Deutschland vier Wochen lang buchstäblich im Zeichen des Fußballs. Insgesamt 18 Millionen Menschen versammelten sich, um gemeinsam auf Großbild-Leinwänden die WM-Spiele anzuschauen. Bis zu 900.000 Fans wurden allein beim Halbfinale Deutschland gegen Italien auf der Fanmeile vor dem Brandenburger Tor in Berlin gezählt. Die Atmosphäre war friedlich, Menschen aus aller Welt feierten gemeinsam. Sogar das Wetter spielte mit, einen Monat lang schien fast durchgängig die Sonne.
Erstmals seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs zeigte sich während der WM in Deutschland auch ein unverkrampfter Nationalstolz. Das ganze Land war schwarz-rot-gold geschmückt. "Hier sieht man ein vereinigtes und glückliches deutsches Volk", befand der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan.
"Die Kraft des Fußballs hat 2006 dazu geführt, dass ein skeptisches, nicht risikoaffines, sondern sicherheitsfanatisches Volk wirklich die Arme öffnete und ein großes Fest feierte", sagt der Soziologe Thomas Druyen im DW-Interview. "Es war für mich, wie für Millionen andere Menschen, eine Sternstunde in meinem Leben."
Wer hat den Begriff Sommermärchen geprägt?
Sönke Wortmann nannte seinen fast zwei Stunden langen Dokumentarfilm über die WM 2006 "Deutschland. Ein Sommermärchen." Mit dem Titel spielte der auch international bekannte Filmregisseur auf das berühmte Gedicht "Deutschland. Ein Wintermärchen" von Heinrich Heine aus dem Jahr 1844 an. In dem Reisebericht hatte der deutsche Dichter, der 1831 nach Frankreich ausgewandert war, mit der politischen Erstarrung seines Geburtslands unter preußischer Herrschaft abgerechnet. Wortmann setzte mit seinem Filmtitel den gegenteiligen Akzent: Er zeigte Deutschland und seine Fußball-Nationalmannschaft im Aufbruch.
Der Dokumentarfilm, der im Oktober 2006 in Deutschland erschien, war ein Kino- und TV-Erfolg. Der Begriff Sommermärchen zog anschließend auch in die deutsche Alltagssprache ein. Seit 2009 steht Sommermärchen im Duden, dem maßgeblichen deutschen Wörterbuch, und wird so erklärt: "In einem Sommer stattfindendes wunderbares, großartiges Ereignis". Das Wort des Jahres 2006, gekürt von der Gesellschaft für deutsche Sprache, war übrigens nicht Sommermärchen, sondern Fanmeile.
Welchen Anteil hatte das DFB-Team am Sommermärchen?
Der von Teamchef Jürgen Klinsmann und Co-Trainer Joachim Löw betreuten deutschen Nationalmannschaft war vor dem Turnier wenig zugetraut worden. Umso überraschender war der erfrischende und auch erfolgreiche Offensivfußball, den das DFB-Team zeigte. Auch abseits des Platzes zeigte sich die Mannschaft unbekümmert und nahbar. Vor allem die Jungstars Bastian Schweinsteiger und Lukas Podolski, damals 21 Jahre alt, begeisterten mit ihren lockeren Sprüchen.
Mit drei Vorrundensiegen qualifizierte sich Deutschland souverän für die erste K.o.-Runde. Im Achtelfinale gewann das DFB-Team gegen Schweden und im Viertelfinale nach Elfmeterschießen gegen die favorisierte Mannschaft Argentiniens. Im Halbfinale verlor die Nationalelf dann gegen den späteren Weltmeister Italien unglücklich durch zwei Treffer kurz vor Ende der Verlängerung. Die Niederlage tat der Euphorie der Fans keinen Abbruch. Nach dem Erfolg im Spiel um Platz drei gegen Portugal wurde die Mannschaft gefeiert, als hätte sie den WM-Titel gewonnen.
Wie nachhaltig war das Sommermärchen sportlich?
Teamchef Jürgen Klinsmann verlängerte seinen nach der WM 2006 auslaufenden Vertrag nicht. Neuer Bundestrainer wurde Klinsmanns Assistent Löw, die Kontinuität war damit garantiert. Bei den folgenden Weltmeisterschaften führte Löw das DFB-Team zunächst 2010 in Südafrika erneut auf Platz drei und schließlich 2014 in Brasilien zum WM-Titel. Mit Philipp Lahm, Per Mertesacker, Miroslav Klose, Schweinsteiger und Podolski waren noch fünf Spieler dabei, die acht Jahre zuvor bei der Heim-WM in Deutschland zum Sommermärchen beigetragen hatten. Nach dem WM-Triumph in Rio de Janeiro schlitterte das DFB-Team in eine Krise, die in Vorrunden-Pleiten bei den Weltmeisterschaften 2018 und 2022 gipfelte.
Welche Auswirkungen hatte das Sommermärchen international auf das Deutschland-Bild?
"Deutschland und seinen Menschen wurde eine neue Entspanntheit, Freundlichkeit und Emotionalität bestätigt. Alte Vorurteile (Sturheit, Humorlosigkeit, Fremdenhass, emotionale Kälte) wurden fallen gelassen", freute sich die deutsche Bundesregierung in ihrem Abschlussbericht zur WM 2006. Auch Franz Beckenbauer, Chef des WM-Organisationskomitees, war rundum zufrieden.
"So stellt sich der liebe Gott die Welt vor, auch wenn wir in der Realität noch 100.000 Jahre davon entfernt sind", sagte der Fußball-"Kaiser", der im vergangenen Januar verstarb. Erst 2015 fiel mit der Affäre um die WM-Vergabe ein Schatten auf das Sommermärchen.
Dem Imagegewinn für Deutschland durch die WM 2006 tat dies jedoch kaum einen Abbruch. "Der Imageschub damals war gewaltig", erinnert sich Soziologe Druyen. "Dieses Image ist danach nicht nennenswert eingebrochen. Es gibt zwar durchaus einige Menschen auf der Welt, die uns wieder als hartherzig bezeichnen würden. Aber im Gros ist unser Image auf einer viel besseren Ebene als vorher."
Wie wahrscheinlich ist ein neues Sommermärchen bei der Heim-EM 2024?
"Nichts würde ich uns mehr wünschen. Nichts würde ich aber im Moment mehr ausschließen, weil die gesellschaftlichen Bedingungen nicht dazu passen und auch nicht unsere Bereitschaft, über uns selbst hinauszuwachsen", sagt Druyen mit Blick auf die bevorstehende Europameisterschaft in Deutschland (14. Juni bis 14. Juli). "Unsere Gesellschaft ist tief frustriert. Aus so einer Stimmung heraus loszulassen, ist - wenn überhaupt - nur möglich, wenn Deutschland ins Endspiel kommt. Eine Euphorie kann nicht aufkommen, wenn die eigene Mannschaft ausscheidet."
Immerhin - die sportliche Ausgangsposition vor der UEFA-Euro 2024 ist vergleichbar mit jener vor der WM 2006: mit Julian Nagelsmann ein noch relativ neuer Bundestrainer, der - wie einst Klinsmann - bereit ist, mit Konventionen zu brechen; eine Mannschaft, der noch vor kurzem kaum jemand zutraute, beim Heimturnier eine wichtige Rolle zu spielen; junge Spieler mit Riesenpotential, wie etwa Florian Wirtz oder Jamal Musiala. Ein zweites Fußball-Sommermärchen würde Deutschland guttun, glaubt Wissenschaftler Druyen: "Es ist eine historische Gelegenheit, die emotionale Sackgasse zu überwinden."