Eine kleine Kulturgeschichte des Hanfs
20. April 2022Was haben die Gutenberg-Bibel und die amerikanische Unabhängigkeitserklärung gemeinsam? Oder ein Wandteppich aus der Wikingerzeit mit einem Schiff von Christopher Kolumbus? Und was verbindet das vom griechischen Geschichtsschreiber Herodot beschriebenen Nomadenvolk der Skythen mit einem göttlichen Auftrag an den Propheten Moses?
Die Antwort auf all diese Fragen lautet: Hanf. Seit Jahrtausenden gehört die Hanfpflanze in vielen Kulturen rund um den Globus zum Alltag. Man kann daraus Papier oder Textilien herstellen oder ihn für medizinische Zwecke nutzen - und das nicht nur als Mutterpflanze verschiedener Rauschmittel. Gerade vor dem Hintergrund der geplanten Legalisierung von Cannabis in Deutschland ist es deshalb höchste Zeit, mit den Mythen rund um das Kraut aufzuräumen und eine kleine Kulturgeschichte des Hanfs zu erzählen.
Die Ursprünge des Hanfs
Auch wenn eine genaue Lokalisierung unmöglich ist, stimmen Forscher darin überein, dass Hanf ursprünglich vom asiatischen Kontinent stammt. So belegen archäologische Ausgrabungen in Japan, dass die Samen der Hanfpflanze dort seit mindestens 10.000 Jahren von Menschen gesammelt werden. Auch in Indien, Thailand oder Malaysia wurden prähistorische Überreste nachgewiesen. Funde auf dem Gebiet des heutigen Chinas beweisen, dass man dort spätestens um 4000 vor Christus gelernt hatte, aus Hanffasern Textilien herzustellen.
Aus dem Chinesischen stammen dann auch einige der frühesten schriftlichen Überlieferungen, dass Hanf als Medizin eingesetzt wurde. Das Wissen darüber wird dem mythischen Urkaiser Shennong zugeschrieben. Im "Běn Cǎo Jīng", einem im ersten Jahrtausend vor Christus aus mündlichen Überlieferungen zusammengestellten Buch, erfährt man so einiges über Kräuterheilkunde. Explizit wird im Buch die Wirkung von Hanf beschrieben: Es erlaube nicht nur die Kommunikation mit Geistern, steht dort geschrieben, sondern entspanne auch den Körper. Gleichzeitig wird davor gewarnt, dass man bei einer zu hohen Dosierung riskiere, den Teufel zu sehen - heutzutage würde man wohl eher von Halluzinationen sprechen.
Sprach Gott etwa von Cannabis?
Wahrscheinlich verbreiteten handeltreibende Nomadenvölker die Hanfpflanze dann zunehmend auch im Westen. Ein Zeugnis dafür findet sich im Werk des griechischen Geschichtsschreibers Herodot. Er beschrieb im 5. Jahrhundert vor Christus das Reitervolk der Skythen. Es lebe am eurasischen Rand der Welt, wo auch Hanf wachse. Bei Bestattungen, so Herodot, würden die Skythen sich in einem Zelt versammeln, Hanfsamen auf glühende Steine werfen und sich dann in dem Dampfbad reinigen. "Die Skythen freuen sich über das Schwitzbad und heulen vor Lust", schreibt Herodot. Das lateinische Wort Cannabis ist übrigens aus der Sprache der Skythen entlehnt.
Generell ist Sprache eine wichtige Hinweisgeberin für die Geschichte des Cannabis. So belegen im Altchinesischen extra Schriftzeichen für die männliche und weibliche Hanfpflanze, für die Früchte und die Samen die intensive Beschäftigung mit der Pflanze - und auch deren Bedeutung im Alltag der Menschen.
Auch im Juden- und Christentum hat Cannabis wohl schon eine lange Geschichte. Im Alten Testament trägt Gott dem Propheten Moses auf, ein heiliges Salböl herzustellen. Neben Zimt, Myrrhe oder Olivenöl solle dabei auch "kaneh bosm" verwendet werden. Dieses hebräische Wort wurde, folgt man der Theorie der 1982 verstorbenen Anthropologin Sula Benet, später falsch ins Griechische übersetzt. Statt Kalmus - oder Gewürzrohr, wie es in der deutschen Einheitsübersetzung der Bibel heißt - sei eigentlich Cannabis gemeint gewesen.
2020 fanden Forscher für diese Theorie zumindest ein Indiz: Am Altar des jüdischen Tempels von Tel Arad in Israel wiesen sie Cannabis mit dem Wirkstoff THC (Tetrahydrocannabinol) nach, der erhitzt eine berauschende Wirkung erzeugt.
Grundlage für Europas Vorherrschaft
In Europa spielte die berauschende Wirkung einiger Hanfsorten lange kaum eine Rolle. Die Äbtissin Hildegard von Bingen (1098-1179) beschreibt Hanfsamen in ihrem Werk "Naturkunde" vor allem als bekömmlich. Hanf war damals vor allem für Textilien, die Schifffahrt oder die Papierherstellung gefragt.
1909 wurden bei der Renovierung einer schwedischen Kirche fünf rund 1000 Jahre alte Wandteppiche vom Ende der Wikingerzeit wiederentdeckt, die teilweise aus Hanf hergestellt worden waren. Auch in reich bestückten Wikingergräbern fand sich feine Kleidung aus Hanffasern als Grabbeigabe.
Alte Hanfkleidung war auch für den Buchdruck entscheidend. Johann Gutenberg machte mit seinem revolutionären Druckverfahren das Abschreiben per Hand überflüssig. Die meisten der berühmten Gutenbergbibeln wurden auf Papier gedruckt, das aus Kleiderlumpen und Hanffasern hergestellt wurde. Für die Nachwelt ein Glück: Hanfpapier ist langlebiger als das heute gängige Papier aus pflanzlichem Zellstoff, die kostbaren Bibeln sind resistenter gegenüber der Zeit.
Auch die ersten beiden Entwürfe der amerikanischen Unabhängigkeitserklärung wurden noch auf Hanfpapier festgehalten. Für die finale Abschrift entschieden sich die Gründerväter dann aber für das aus Tierhaut gewonnene Pergament.
Und wer weiß, ohne Hanf hätte es vielleicht gar keine Unabhängigkeitserklärungen gegeben, weil Christoph Kolumbus dann vielleicht gar nicht nach Amerika gekommen wäre... Denn wie bei allen Schiffen aus dieser Zeit bestanden die Segel, Netze und Seile seiner Flotte aus Hanf, weil es auch bei Feuchte nicht verrottet oder modert.
Bis heute sind Hanffasern das bevorzugte Mittel, um Wasserleitungen abzudichten. Weil die Schifffahrt lange Zeit unverzichtbar für Handel, Kriege und Reisen über die Weltmeere war, bildete die Hanfindustrie eine wichtige Grundlage für die wirtschaftliche, militärische und politische Vorherrschaft Europas.
Beginnt jetzt die Zeit des Hanfs?
Abgelöst wurde Hanf dann vor allem durch fossile Rohstoffe. Während der Anbau von Hanfpflanzen vergleichsweise anspruchslos ist, ist ihre Verarbeitung aufwendiger. Mit der Ausweitung der Motorschifffahrt konnten einfacher zu verarbeitende Rohstoffe wie Baumwolle nun massenhaft und billiger eingeführt werden, die Hanfindustrie schrumpfte. Nur in den Weltkriegen erlebte sie noch einmal einen Aufschwung in Deutschland, weil die Importe ausblieben.
Mitte des 20. Jahrhunderts wurden dann selbst die Taue und Segel nicht mehr aus Hanf, sondern aus erdölbasierten Kunstfasern hergestellt - pikanterweise mit tatkräftiger Unterstützung durch Harry Anslinger, der als Chef der obersten amerikanischen Drogenbehörde der USA über 30 Jahre lang die Dämonisierung des Hanfs vorantrieb. Die Ölindustrie freute sich, doch der Krieg gegen den Hanf ist langfristig gescheitert.
Nicht nur legalisieren immer mehr Länder auf der Welt den Konsum von Cannabis, Unternehmen setzen auch abseits des Geschäfts mit medizinischem Marihuana und dem Rauschmittel auf Hanf. Schließlich wurde die Pflanze durch fossile Rohstoffe ersetzt, deren Verbrennen für die Klimaerwärmung verantwortlich ist.
Die Wiederentdeckung und Weiterentwicklung von alten, nicht auf Erdöl basierenden Technologien mag nicht das alleinige Allheilmittel sein, aber Hanf könnte zumindest ein Baustein zu einer nachhaltigeren Wirtschaft sein. Die Geschichte zeigt: Es hat ja schon einmal funktioniert.