Angriff auf Israel: Wenn der Kibbuz zum Albtraum wird
8. Oktober 2023Be'eri, Kfar Aza, Re'im - in diesen Ortschaften, allesamt Kibbuzim, ist Unvorstellbares passiert: Geiselnahmen, Entführungen, Morde.
Sie liegen in unmittelbarer Nähe zum Gazastreifen, und die Menschen dort gehörten zu den ersten Opfern der Angriffe der militant-islamistischen Hamas.
Die Terroristen durchbrachen in den frühen Morgenstunden des 7. Oktobers die Grenze zu Israel. In der Folge entführte, verletzte und tötete die Hamas viele Zivilisten und Soldaten.
Geiselnahme im Kibbuz
"Es ist eine Katastrophe. Und es ist immer noch nicht vorbei", sagt Micky Drill, seit Jahren Project Manager bei der Friedrich-Ebert-Stiftung in Israel.
Aktuell gibt es Berichte von Gefechten im Kibbuz Magen, nur rund vier Kilometer von der Grenze zum Gazastreifen entfernt. Micky Drill hat zehn Jahre genau an diesem Ort gelebt, wo jetzt gekämpft wird. Inzwischen lebt er südlich von Tel Aviv.
Der Süden Israels an der Grenze zum Gazastreifen ist ländlich geprägt mit vielen Kibbuzim. In einigen wohnen 400 Menschen, andere haben bis zu 800 Bewohner.
Seit über 100 Jahren, also auch schon vor der Staatsgründung 1948, gibt es Kibbuzim auf dem Gebiet des heutigen Israels. Einige wenige befinden sich auch im von Israel besetzten Westjordanland und auf den von Israel annektierten Golanhöhen.
Die ursprünglich kollektivistischen Gemeinschaften und Lebensformen beruhen auf bestimmten Prinzipien wie sozialer Gerechtigkeit und gegenseitiger Unterstützung. Inzwischen sind viele Kibbuzim privatisiert, produzieren aber noch immer einen erheblichen Anteil der landwirtschaftlichen Erträge Israels, obwohl insgesamt nur vier Prozent der Israelis heute noch in Kibbuzim leben.
Beliebte Orte trotz Raketenbeschuss
Die Gegend im Süden, die nun von Terror heimgesucht wurde, wurde laut Micky Drill in den vergangenen Jahren immer beliebter - wie die ganze Kibbuz-Bewegung: "Die Kibbuz-Bewegung heute ist auf dem aufsteigenden Ast, und sie ist sehr populär. Diese Gegend dort besteht vor allem aus Kibbuzim und hatte einen unheimlichen Bevölkerungszuwachs in den letzten Jahren, trotz der militärischen Bedrohung. Das sind starke Communities, viel Natur, ein ganz anderer Lebensstandard als in der engen Stadt."
Das ist durchaus erstaunlich, denn wer am Gazastreifen lebt, lebt auch mit ständigem Raketenalarm. Teilweise bleiben den Menschen nur 15 Sekunden Zeit, um einen Schutzraum aufzusuchen.
Doch an diese Bedrohung hätten sich die Menschen mit der Zeit gewöhnt, meint Micky Drill: "Die gesamte Infrastruktur hat sich daran angepasst. Die ganzen Häuser dort sind geschützt mit Betondecken. Aber das, was jetzt passiert ist, ist eine ganz andere Sache."
Bilder von erschreckender Gewalt
In den frühen Morgenstunden drangen Hamas-Kämpfer, manche Berichte sprechen von bis zu 300 Männern, nach Israel ein. Videos in den Sozialen Netzwerken zeigen schockierende Szenen von toten Zivilisten, brennenden Gebäuden, entblößten Geiseln.
"Dass die Leute mit einem Bagger den Zaun rammen und dann in die Kibbuzim eindringen und Leute abschlachten, und die Familien und Kinder aus ihren Betten nach Gaza verschleppen, das hat sich niemand vorstellen können", sagt Drill.
Manche sprechen von Israels "11. September", einer Tragödie für das Land. Für die Menschen in den Kibbuzim, so schätzt es Drill ein, bedeute der Angriff auch einen "riesigen Vertrauensbruch" - auch in die eigene Regierung und die Armee.
Denn die hatte zuvor immer gesagt: Dank des Raketenabwehrsystems und der stillgelegten Tunnel, die jahrelang ein Sicherheitsproblem waren, seid ihr sicher. "Und das hat nicht gestimmt", sagt Drill.
Dazu kommt: die Kibbuz-Bewohner stehen traditionell politisch links. Es gibt auch religiöse Kibbuzim, aber die meisten haben ihre Tradition in sozialistischen Idealen. Die amtierende Regierung hätten hier nur wenige gewählt, sagt Drill.
Durch den Gazastreifen zum Strand
Viele Bewohner erinnern sich sogar noch an Zeiten, als der Gazastreifen offen war. "Wir sind damals mit dem Fahrrad ans Meer gefahren", sagt Drill. Erst 1994 wurde Gaza unter anderem mit dem Grenzzaun abgeriegelt.
Nun, so sagt es Drill, seien viele enttäuscht von Regierung und Armee - auch weil es sehr lange gedauert habe, bis letztere überhaupt vor Ort war. Zu Beginn mussten sich die Kibbuz-Bewohner selbst gegen die Terroristen verteidigen.
Im Kibbuz Be'eri wurden fast 50 Menschen stundenlang als Geiseln gehalten, bis dann doch der Armee eine Beendigung der Geiselnahme gelang.
"Die Terroristen haben genau gewusst, wo die Schwachstellen sind, wo die Kibbuzim bewacht werden, ob sie überhaupt bewacht werden", sagt Drill.
Einer der prominentesten Opfer der Angriffe vom 7. Oktober ist Ofir Liebstein, ein Regionalchef und langjähriger Sprecher des Kibbuz Kfar Aza. Er gehörte zu den ersten Todesopfern.
Zuvor hatte er sich immer wieder für Frieden ausgesprochen. Das Leben an der Grenze beschrieb er so: "Das Leben hier ist zu 99 Prozent wie im Himmel. Aber zu einem Prozent ist es die Hölle, und diese Hölle kann jederzeit losbrechen."