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9/11 und der "Krieg gegen den Terror"

10. September 2021

Vor 20 Jahren greifen Terroristen die Weltmacht USA an. Die verwundete Nation ruft den "Krieg gegen den Terror" aus - und verliert ihre moralische Autorität.

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BG New York City 20 Jahre nach 9/11 | World Trade Center, Anschlag 2001
9/11: Mit Teppichmessern die Supermacht ins Mark getroffenBild: Alex Fuchs/AFP/dpa/picture alliance

20 Jahre sind vergangen seit den Anschlägen vom 11. September. Am Ground Zero in New York erheben sich die Türme eines neuen World Trade Centers, mit einem Mahnmal für die knapp 3000 Opfer der Anschläge, die damals die USA und die Welt ins Herz getroffen haben. Die Stadt ist nach dem Schock der Angriffe auf die Twin Towers wieder auf die Beine gekommen. Sie hat mehr Einwohner als 2001, bis zur Corona-Pandemie boomte die Wirtschaft.

Aber nichts ist wieder wie zuvor, wie könnte es auch. Nicht nur in den USA, wo Gedenkveranstaltungen an diesen nicht vergehen wollenden Tag erinnern. Sondern auch in weiten Teilen des Mittleren Ostens oder in Afghanistan. Zwar weht auch dort wieder die Flagge der Taliban, so wie vor 20 Jahren. Aber als unlängst bei der Evakuierungsaktion am Kabuler Flughafen ein Terrorangriff rund 170 Afghanen tötete und mehr als ein Dutzend US-Soldaten, erklärte sich der lokale Ableger des "Islamischen Staates" für die Tat verantwortlich. Diese Organisation hatte es vor 20 Jahren noch gar nicht gegeben. Damals, als der "Krieg gegen den Terror" begann. Aber ihre Entstehung hängt eng mit diesem Krieg zusammen - und wie er geführt wurde.

"Wir wissen sehr genau, dass der Aufstieg des IS ein unmittelbares Ergebnis des Sturzes von Saddam Hussein im Jahr 2003 war", erläutert Bernd Greiner. Im DW-Gespräch führt der Hamburger Historiker aus, ein großer Teil der ersten Generation von ISIS-Kämpfern sei aus der alten Armee von Saddam Hussein gekommen.

George W. Bush erklärt Irakkrieg für beendet, an Bord des Flugzeugträgers USS Lincoln vor einem Banner "Mission Accomplished"
"Mission accomplished", sagt George W. Bush am 1. Mai 2003. Doch auch danach fordert der Krieg viele Opfer Bild: S.Jaffe/AFP/GettyImages

"Die war von den USA von jetzt auf gleich aufgelöst worden. Damit standen Hunderttausende junger Männer auf der Straße ohne Aussicht auf Beschäftigung. So was ist Humus für Radikalisierung."

Kriegsbeginn mit Teppichmessern

2001 hatten Al-Kaida-Terroristen mit dem World Trade Center ein Symbol wirtschaftlicher Macht zum Einsturz gebracht. Sie hatten das Pentagon angegriffen, das Zentrum der militärischen Macht. Und sie hatten mit ihrem Massenmord ein nationales Trauma ausgelöst.

Und all das mit nichts anderem als Teppichmessern, mit denen sie Passagierflugzeuge in Waffen verwandelt hatten, gesteuert von einem Saudi-Araber namens Osama bin Laden aus einem Zelt in Afghanistan. Eine beispiellose Demütigung für ein Land, dass sich damals vielleicht auf dem Zenit seiner Macht befand, das sich ein Dutzend Jahre nach dem Sieg im "Kalten Krieg" und dem Zusammenbruch der Sowjetunion nahezu unverwundbar fühlte.

Die USA reagierten mit Bestürzung und Trauer – und konnten auf die Solidarität der ganzen Welt bauen. Sie reagierten mit Wut und suchten Vergeltung – und fanden Verständnis. Eine Polizeiaktion oder auch eine Operation mit Spezialkräften wie zehn Jahre später bei der Tötung von Al-Kaida-Anführer Osama bin Laden in Pakistan kam für die US-Administration damals nicht in Frage.

Zum ersten Mal in der Geschichte der NATO wurde der Bündnisfall ausgerufen. In einer vom UN-Sicherheitsrat als Akt der Selbstverteidigung legitimierten Militäraktion wurden in wenigen Monaten die Taliban in Afghanistan gestürzt.

Teil einer Präsentation im UN-Sicherheitsrat von Colin Powell, 2003.Eine Skizze zeigt drei LKWs, die  angebliche eine mobile Chemiewaffenproduktion ermöglichen
US-Außenminister Colin Powell zeigte im UN-Sicherheitsrat Bilder angeblicher mobiler ChemiewaffenfabrikenBild: state.gov

Als 2003 George W. Bush den Irak angriff, gab es keine solche Legitimation mehr. Es gab allein falsche Behauptungen über Verbindungen Saddam Husseins zu den Attentätern des 11. September sowie ebenso falsche Behauptungen, der irakische Diktator würde Massenvernichtungswaffen produzieren.

Die "unverzichtbare Nation" demonstriert ihre Macht

Viele US-amerikanische Politiker hätten nach dem 11. September die Gelegenheit gesehen, der Welt zu demonstrieren, dass die USA die "unverzichtbare Nation" der Welt seien, sagt der US-amerikanische Historiker Stephen Wertheim im DW-Interview. "Und diese 'Unverzichtbarkeit' haben sie demonstriert, indem sie versuchten, ein ganzes Land und eine ganze Region der Welt neu zu gestalten."

Bernd Greiner sieht noch ein Motiv: "In ihrer Ohnmacht und Machtlosigkeit gegenüber diesem Typ asymmetrischen Angriffs wollten die USA der Welt und insbesondere der arabischen Welt demonstrieren: Wer sich mit uns künftig anlegt, der hat sein Existenzrecht verwirkt." Das Fazit des Historikers: "Das war im Grunde ein symbolischer Akt, sowohl in Afghanistan als auch im Irak."

Für die These Greiners spricht: Nur wenige Wochen nach dem 11. September beauftragte das Weiße Haus das Pentagon, Szenarien für einen Krieg gegen den Irak zu entwerfen. Und in seinem Buch "Bush at War" berichtete der Pulitzer-Preisträger Bob Woodward, dass US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld von der Sorge umgetrieben wurde, in Afghanistan nicht genug Ziele für die US-High-Tech-Waffen zu haben. "Wir wollen nicht aussehen, als würden wir auf Sand hämmern", wird Rumsfeld zitiert. "Wir brauchen etwas, das wir treffen können. Es gibt aber nicht so viel von Al-Kaida zu treffen."

USA Ex- Verteigungsminister Donald Rumsfeld
US-Verteidigungsminister Rumsfeld auf der Suche nach Zielen: "Wollen nicht aussehen, als würden wir auf Sand hämmern"Bild: Stephen Jaffe/AFP/Getty Images

Diese Haltung war auch in anderen Teilen des politischen Establishments verbreitet. Als etwa Henry Kissinger von George W. Bushs Redenschreiber Michael Gerson gefragt wurde, warum er den Irak-Krieg unterstütze, ist als Antwort überliefert: "Weil Afghanistan nicht genug war." Die radikalen Gegner in der muslimischen Welt wollten die USA demütigen, "deshalb müssen wir sie demütigen." Der Historiker Stephen Wertheim kommt zu dem Schluss: Der Irak habe weniger eine Bedrohung dargestellt als vielmehr eine Bühne.

Fast eine Million Kriegsopfer

Der von Präsident Bush ausgerufene "Krieg gegen den Terror" war zu einem entgrenzten Krieg geworden. Ein Krieg, "der nicht genau definiert ist, weder zeitlich noch geographisch. Sondern der global geführt wird", wie Johannes Thimm ausführt, USA-Experte der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik, SWP.

Das "Cost of War" Projekt der Brown Universität im amerikanischen Providence kommt in seiner jüngsten Aufstellung auf insgesamt 85 Länder, in denen die US-Regierung Anti-Terror-Maßnahmen durchführt. Das aus über 50 Wissenschaftlern, Rechtsexperten und Menschenrechtlern bestehende Team hat noch mehr Zahlen parat, bestürzende Zahlen: Demnach sollen im "Krieg gegen den Terror" insgesamt fast 930.000 Menschen direkt durch Kampfhandlungen getötet worden sein, knapp 400.000 davon Zivilisten.

Irak Reportage "Mossul 1 Jahr nach der Befreiung" | Rückkehr
Mossul im Nordirak im Juni 2018, ein Jahr nach der Befreiung aus der Hand des "Islamischen Staates"Bild: DW/S. Petersmann

Solche Zahlen lassen die Worte von US-General Stanley A. McCrystal bei einer Anhörung im US-Senat 2009 in einem anderen Licht erscheinen: "Ich glaube, die öffentliche Wahrnehmung von getöteten Zivilisten ist einer der gefährlichsten Feinde, denen wir gegenüberstehen." Konsequenterweise wurde das schmutzige Gesicht des Krieges weitgehend verborgen.

Entsprechend schockiert reagierte die Weltöffentlichkeit, als 2010 die Enthüllungsplattform Wikileaks das wahre Gesicht der Kriege in Irak und Afghanistan enthüllte. Und mit der Veröffentlichung des "Collateral Murder"-Videos sehr drastisch die Ermordung von Zivilisten in Bagdad belegte.

Die Weltmacht verliert an Autorität

Das Ansehen der USA war ohnehin bereits ramponiert. Weil sie sich in ihrer Kriegsführung über geltendes Recht hinwegsetzten. SWP-Experte Johannes Thimm nennt im DW-Interview an erster Stelle den Einsatz von Folter: "Weil Folter tatsächlich ein kompletter Rechtsbruch war. Es gibt ja auch einen Grund, warum das nicht Folter genannt wird, sondern 'verschärfte Verhörtechniken' (enhanced interrogation techniques), weil Folter einfach unmissverständlich verboten ist vom Völkerrecht."

Aber auch die jahrzehntelange Inhaftierung von Verdächtigen in völlig rechtsfreien Räumen wie etwa dem US-Marinestützpunkt Guantanamo gehört dazu. Und vor allem die Tötung von Terrorverdächtigen durch Drohnenangriffe: Das Bureau Of Investigative Journalism zählt mindestens 14.000 Drohnenangriffe.

Dabei sollen zwischen knapp 9.000 und knapp 17.000 Menschen getötet worden sein, darunter bis zu 2.000 Zivilisten und Hunderte Kinder. Johannes Thimm kommt deshalb zu der ernüchternden Einschätzung: "Auch wenn das empirisch nicht nachzuweisen ist: Mein Eindruck ist, die gezielten Tötungen durch Drohnen haben wahrscheinlich in Afghanistan mehr Dschihadisten produziert, als sie getötet haben."

Das undatierte Foto der US Air Force zeigt eine Drohne vom Typ MQ-1 Predator.
Drohnenangriffe: Der Tod aus der Luft trifft immer wieder auch unbeteiligte ZivilistenBild: picture-alliance/dpa/EPA/Lt. Col. Leslie Pratt

Nicht nur in Afghanistan. Gegenüber der DW hält der Politikwissenschaftler Julian Junk von der Hessischen Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK) mit Blick auf Terrornetzwerke in Europa und Deutschland fest: "Wir können feststellen, dass die extralegalen Methoden im 'War on Terror' mobilisierend gewirkt haben für salafistische und dschihadistische Gruppen."

Ein Acht-Billionen-Dollar-Fehler?

Die 20 Jahre "Krieg gegen den Terror" haben laut "Cost of War" allein die USA die unvorstellbare Summe von acht Billionen Dollar gekostet. Damit könnte man Joe Bidens Infrastrukturprogramm mit Leichtigkeit gleich mehrfach bezahlen.

Weshalb der USA-Kenner Bernd Greiner ganz unabhängig von den Folgen für den Rest der Welt zu dem Urteil kommt: "Die USA haben sich massiv geschädigt durch diese irrsinnigen Ausgaben für die Kriege im Irak und in Afghanistan. So etwas stecken auch die Vereinigten Staaten nicht mal so eben weg. Das war nicht die Portokasse, das ging ans Eingemachte."

Der US-Historiker Stephen Wertheim seufzt: "Es gibt so viele andere würdige Unternehmungen, auf welche die Vereinigten Staaten ihr gewaltiges Personal und ihre Ressourcen hätten lenken können, anstatt destruktiv auf den Anschlag vom 11. September zu reagieren."

Matthias von Hein
Matthias von Hein Autor mit Fokus auf Hintergrundrecherchen zu Krisen, Konflikten und Geostrategie.@matvhein