Brisante Irak-Kriegsberichte veröffentlicht
23. Oktober 2010Wie die Betreiber von WikiLeaks in der Nacht zum Samstag (23.10.2010, MESZ) mitteilten, können die Dokumente von sofort an online eingesehen und nach Stichwörtern durchsucht werden. Die als "Iraq War Logs" (Irak Kriegstagebücher) bezeichnete Sammlung sei das größte Leck in der Militärgeschichte, schreiben die WikiLeaks-Betreiber auf ihrer Internetseite (www.wikileaks.org). Anhand der Dokumente - die aus den Jahren 2004 bis 2009 stammen sollen - könne der gesamte Krieg nachvollzogen werden. "So gut wie jeder militärische Zwischenfall" sei darin dokumentiert. Die Enthüllungsplattform spielte die Dokumente internationalen Medien wie dem "Spiegel", der Zeitung "New York Times" und dem britischen "Guardian" zu.
Ungesühnt
Während des Irak-Kriegs wurden demnach mehr als 15.000 Zivilisten bei bislang nicht bekannten Zwischenfällen getötet. Vertreter der USA und Großbritanniens hatten bisher stets betont, es gebe keine offiziellen Zahlen zu zivilen Todesopfern.
Die "New York Times" sprach von einem "drastischen Porträt" des Krieges. Es sei klar, dass die meisten Menschen durch die Hand anderer Iraker gestorben seien. Aus den Unterlagen gehe die Zahl von 109.000 Toten hervor, von denen mehr als 66.000 getötet worden seien, ohne in Kampfhandlungen verwickelt gewesen zu sein. Allerdings könne es sein, dass einige Fälle mehrfach gezählt wurden, in einigen anderen Fällen gebe es Zweifel an den Opferzahlen.
Die britische Zeitung "Guardian", die die Dokumente bereits vorab analysieren konnte, berichtet, die amerikanischen Truppen seien zudem Hunderten Berichten über Folter und Mord durch irakische Polizisten und Soldaten nicht nachgegangen. Deren Verhalten sei offenbar systematisch gewesen und in der Regel ungesühnt geblieben. In zwei Fällen habe eine Obduktion ergeben, dass irakische Häftlinge zu Tode gefoltert wurden, schreibt der "Guardian". Die Polizei habe angegeben, einer der Männer habe Selbstmord begangen, der andere sei an einem Nierenleiden gestorben.
Außerdem hätten die US-Truppen im Irak bereitwillig tödliche Gewalt eingesetzt, heißt es dem "Guardian" zufolge in den auf WikiLeaks veröffentlichten Unterlagen weiter. So seien zwei Männer im Februar 2007 von einem Kampfhubschrauber aus erschossen worden. Die mutmaßlichen Aufständischen hätten sich ergeben wollen. Ein Anwalt auf dem US-Stützpunkt habe den Piloten aber gesagt: "Man kann sich keinem Flugzeug ergeben."
"Beweise für Kriegsverbrechen"
"Spiegel Online" berichtete, die Dokumente zeigten zahlreiche Fälle von Folter. In Hunderten Fällen hätten US-Ärzte bei Irakern entsprechende Verletzungen festgestellt. Immer wieder berichteten Häftlinge,sie seien mit kochendem Wasser verbrüht worden; ihnen seien Fingernägel ausgerissen, die Fußsohlen mit Elektrokabeln zerschlagen und Genitalien mit Stromstößen malträtiert worden.
WikiLeaks-Gründer Julian Assange sagte dem US-Nachrichtensender CNN, die Papiere stellten "Beweise für Kriegsverbrechen" dar, die von den Koalitionstruppen und der irakischen Regierung begangen worden seien. Assange bestritt eine Gefährdung von US-Soldaten und irakischen Zivilisten. Es sei ja auch niemand durch die Veröffentlichung der Dokumente zum Afghanistankrieg im vergangenen Juli zu Schaden gekommen. Damals hatte WikiLeaks mit der Veröffentlichung Zehntausender Dokumente zum Krieg in Afghanistan für Aufsehen gesorgt. Die nun ins Internet gestellten Irak-Papiere sollen aus der gleichen Quelle stammen.
"Ungeniert"
Das US-Verteidigungsministerium reagierte mit aller Schärfe auf die Veröffentlichung. "Indem solch sensible Dokumente zugänglich gemacht werden, setzt WikiLeaks weiter das Leben unserer Soldaten, unserer Verbündeten, und von Irakern und Afghanen aufs Spiel, die für uns arbeiten", erklärte das Pentagon.
Die "einzige verantwortungsbewusste Maßnahme" von WikiLeaks wäre es jetzt, das "gestohlene Material" sofort zurückzugeben und es so schnell wie möglich von ihrer Webseite zu löschen. Das Pentagon verurteile, dass Personen dazu verleitet worden seien, das Gesetz zu brechen, vertrauliche Dokumente weiterzugeben und dann "ungeniert diese geheimen Informationen mit der Welt zu teilen, unter Einschluss unserer Feinde". Man wisse, dass Terrororganisationen die zuletzt veröffentlichten Akten zum Afghanistan-Krieg nach Angaben durchforstet hätten, die gegen die USA verwendet werden könnten.
Scharfe Kritik
Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International forderte die USA auf, die von WikiLeaks aufgedeckten Übergriffe in irakischen Gefängnissen zu untersuchen. Washington müsse aufklären, "was US-Verantwortliche über Folter und Misshandlung von Gefangenen in irakischen Haftanstalten wussten", betonte die Generalsekretärin von Amnesty International in Deutschland, Monika Lüke, am frühen Samstagmorgen in Berlin. Ihre Organisation habe die jetzt veröffentlichten Dokumente noch nicht prüfen können, "auf den ersten Blick" untermauerten sie aber "unsere Auffassung, dass die USA gegen internationales Recht verstoßen haben, als sie Tausende Gefangene an die irakischen Behörden übergeben haben".
Der Irak-Krieg hatte im März 2003 mit der Invasion der USA, Großbritanniens und verbündeter Staaten begonnen. Deutschland, Frankreich und Russland stellten sich gegen die sogenannte "Koalition der Willigen". Die Invasion erfolgte damals ohne Legitimation durch den UN-Sicherheitsrat. Am 31. August 2010 erklärte US-Präsident Barack Obama den Irak-Krieg offiziell für beendet.
Autoren: Reinhard Kleber / Christian Walz (dapd, afp, dpa)
Redaktion: Thomas Grimmer