WM in Katar: "Reformen sind ein PR-Gag"
10. November 2022Es ist keine Wolke zu sehen, der Himmel ist strahlend blau und die Sonne erhitzt die Luft auf rund 35 Grad. Dazu kommen an diesem Tag ungefähr 80 Prozent Luftfeuchtigkeit. Zahlreiche Autos quetschen sich durch die engen Straßen des Stadtteils Al-Sadd in Doha. Es ist schwül, die Klimaanlagen in den Autos und Gebäuden laufen auf Hochtouren. Einige Arbeiter, die gerade an einer Straßenkreuzung arbeiten, haben sich zum Schutz gegen die Sonne Tücher über den Kopf und das Gesicht gezogen. Einige sitzen im Schatten und machen eine kurze Trinkpause. Vor dem Anstoß bei der Weltmeisterschaft in Katar am 20. November gleicht Doha nach wie vor einer riesigen Baustelle.
In der Hauptstadt des Wüstenstaates werden Straßen asphaltiert, an Gebäuden gearbeitet und Gehwege gepflastert. Die Zeit ist knapp, die Bauarbeiten müssen fertig gestellt werden, denn es sind nur noch Tage bis die ersten Fußballteams, Funktionäre und Fans in das kleine Land am Persischen Golf reisen werden. Es ist mittlerweile zwölf Jahre her, dass die FIFA die WM nach Katar vergeben hat. Die wohl meist diskutierte Vergabe in der Geschichte des Fußball-Weltverbandes. Eine wohl von Korruption und illegalen Machenschaften bestimmte Wahl, die eine ganze Welle an Kritik ausgelöst und dennoch bis heute im Land nicht viel verändert habe, sagt Wenzel Michalski von Human Rights Watch (HRW).
"Die aktuelle Menschenrechtssituation in Katar ist schlecht", berichtet Michalski im DW-Interview und zählt die Missstände auf. LGBTQ-Menschen haben keine Rechte und werden verfolgt. Sie werden geprügelt, gefoltert und ins Gefängnis gesteckt, die Medienfreiheit ist eingeschränkt, es gibt keine Rechtstaatlichkeit, Demonstrationen und Gewerkschaften sind in Katar nicht erlaubt. Zudem haben Frauen nur eingeschränkte Rechte und sind keine mündigen Bürgerinnen." Und das obwohl kürzlich das Male-Guardian-System, also die Bevormundung der Frau durch den Mann, offiziell abgeschafft wurde. Dies sei, so Michalski, aber nur auf dem Papier geschehen, in der Realität sei das immer noch anders.
Der Wüsten-Staat bemüht sich zwar schon länger, der Welt ein liberales Bild des Landes zu vermitteln. Auch Fans aus der LGBTQ-Szene seien willkommen, hieß es offiziell. In der "Frankfurter Allgemeinen Zeitung" hatte Außenminister Mohammed bin Abdulrahman Al Thani Kritik an Katar vor allem aus Europa als "sehr arrogant und sehr rassistisch" bezeichnet und auf Reformen in seinem Land verwiesen, die auch nach der WM fortgesetzt würden. Doch spätestens seit der Entgleisung von Khalid Salman darf daran stark gezweifelt werden. Der offizielle WM-Botschafter gab in in der ZDF-Dokumentation "Geheimsache Katar" unverblümt zu, dass Schwulsein in seinen Augen "haram", also verboten und gar "ein geistiger Schaden" sei.
Bidali: "Jeder Tote ist einer zu viel"
Auch die Situation der Arbeitsmigranten in Katar wurde in den vergangenen Jahren deutlich kritisiert. Zahlreiche Medienvertreter und Nichtregierungsorganisationen reisten ins Land, dokumentierten die teils dramatischen Lebens- und Arbeitsumstände in den Unterkünften und auf den Baustellen im Land. "Ich habe Unterkünfte gesehen, wo bis zu zwölf Menschen gemeinsam in einem kleinen Raum leben mussten. Es waren erbärmliche Lebensumstände", erinnert sich Malcolm Bidali im Interview mit der DW. Der 29-Jährige war bei einer Sicherheitsfirma In Doha angestellt und bewachte eine der U-Bahn-Baustellen, welche die WM-Fans zu den Stadien bringen soll.
Neben den untragbaren Lebensumständen steht die Tatsache, dass in den vergangenen Jahren tausende Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter ihr Leben verloren haben. Die Zahlen reichen von drei (FIFA-Präsident Gianni Infantino) bis zu 15.000 (Amnesty International) Menschen, die seit 2010 im Zusammenhang mit den WM-Bauarbeiten gestorben sind. "Wir sehen, dass viele der Toten zwischen 18 und 40 Jahre alt waren, also junge gesunde Menschen. Im Totenschein wurde dann fast immer von einem natürlichen Tod gesprochen", erklärt Bidali, der in einem Blog über die Missstände in Katar berichtet. "Doch egal wie hoch die Zahlen auch sind, jeder Tote ist einer zu viel," so der ehemalige Gastarbeiter.
Pandey: "Es ist noch lange nicht genug!"
Lange Zeit wurde die Kritik an Katar und der Vergabe der WM dorthin von FIFA und auch der katarischen Regierung ignoriert und Reformen blockiert oder nur langsam angeschoben. Mittlerweile gibt es jedoch Veränderungen im Wüstenstaat. "Es hat sich auf dem Papier sehr viel verändert", erklärt Michalski. "Das Kafala-System, also die totale Abhängigkeit eines Arbeitnehmers vom Arbeitgeber, ist offiziell abgeschafft worden. Allerdings gibt es in der Praxis Teile von diesem System immer noch. Die Umsetzung der Reformen lässt sehr zu wünschen übrig. Es ist zu wenig zu spät passiert", so der Menschenrechtler.
Für Binda Pandey, eine Vertreterin des nepalesischen Gewerkschaftsdachverbands bei der International Labour Organisation in Nepal (ILO), sind Reformen ebenfalls sichtbar, aber noch lange nicht ausreichend. "Einige der großen Firmen und die, die der Regierung gehören, befolgen die neuen Arbeitsrechte. Doch die kleinen und mittleren Unternehmen tun das nicht", so Pandey. "Der Lohn wird mittlerweile auf ein Bankkonto überwiesen und Katar bildet immer mehr Arbeitsinspektoren aus." Aber, so die Gewerkschafterin im DW-Gespräch: "Es ist noch lange nicht genug!" Pandey ist zuständig für rund 500.000 Menschen, die aus Nepal als Gastarbeiter nach Katar gekommen sind.
Reformen nur aus PR-Gründen
Mit der Fußball-WM wollte Katar weiter an der eigenen Aufmerksamkeit in der Welt, aber vor allem am eigenen Image feilen. Doch mit der massiven Kritik der vergangenen Jahre hatte das Emirat anscheinend nicht gerechnet, denn die Reformen wurden erst spät oder zu langsam angeschoben. "Der enorme Druck der Medien, der internationalen Zivilgesellschaft und von Menschenrechtsgruppen hat dazu geführt, dass die Kritik, die damit einhergeht, rufschädigend sein könnte", so Michalski. "Deswegen hat man aus PR-Gründen Reformen angeschoben." Ein Wille zu wirklichen Veränderungen sei auch so kurz vor der WM nicht zu erkennen, so der HRW-Vertreter.
Was wird also bleiben, wenn am 18. Dezember der Schlusspfiff ertönt? War die Vergabe der WM nach Katar hilfreich für die Menschen im Land oder nicht? Für Binda Pandey aus Nepal haben die WM-Diskussionen zumindest zu mehr Aufmerksamkeit geführt. Nicht nur in Katar, sondern auch in ihrem eigenen Land, wo weiterhin tausende Arbeitsmigranten ins Emirat reisen, um dort Geld für ihre Familien zu verdienen.
"Aufgrund der Diskussionen und wegen der von der ILO und anderen Organisationen geforderten Veränderungen, sprechen wir nun auch in Nepal über die Probleme von Arbeitsmigranten", sagt Pandey und erklärt: "Zum Beispiel wurde ein Hilfsfonds ins Leben gerufen, der die Arbeiterinnen und Arbeiter finanziell unterstützt. Wir können so einige Familien zum Beispiel bei der Schulbildung unterstützen. Oder wenn Arbeitsmigranten bei ihrer Arbeit im Ausland schlecht bezahlt werden, können wir das mit dem Fonds auffangen. Jetzt haben wir direkte Ansprechpartner und Anwälte für Arbeitsrecht in Nepal für die Arbeitsmigranten."
Hilfsfonds sei "Werbegag"
In Katar gibt es einen solchen Fonds allerdings nicht. Er wurde vom katarischen Arbeitsminister abgelehnt. Ali bin Samikh Al Marri nannte dies in einem Interview mit der Nachrichtenagentur AFP einen "Werbegag", es gäbe keine Kriterien, um diesen Hilfsfonds einzurichten. "So ein Fonds ist eine Minimalforderung und die Pflicht eines Arbeitgebers, wie es die katarische Regierung und eben auch die FIFA ist, um für die Arbeiter, die Schaden davontragen und für die Familien aufzukommen und sie finanziell zu entschädigen", kritisiert Michalski demgegenüber. Es sei demnach zu befürchten, dass es keine nachhaltigen Verbesserungen gibt.
Seit der skandalösen Vergabe 2010 sind mittlerweile zwölf Jahre vergangen. Wie nachhaltig die Reformen in Katar wirklich sein werden, wird die Zukunft zeigen. Es besteht jedoch die Gefahr, dass nach dem Schlusspfiff die Aufmerksamkeit sinken, die Kritik wieder abflachen und der Druck auf das Land abnehmen wird. "Ohne die Vergabe der WM hätte sich in Katar gar nichts verändert, doch wir müssen auch nach der Weltmeisterschaft kritisch bleiben", fordert Pandey von der ILO Nepal.
Menschenrechte sind global und nicht verhandelbar. Wenzel Michalski hofft, dass die WM in Katar zumindest bei Verbänden zu nachhaltigen Veränderungen führt. "Ich hoffe, dass die Art von FIFA-Präsidenten wie sie Gianni Infantino repräsentiert, demnächst der Vergangenheit angehört. Und dass die Menschenrechtsagenda, die sich die FIFA 2019 selbst gegeben hat, ernst genommen wird und eine zukünftige Vergabe auch an die Umsetzung von Umweltschutzmaßnahmen und Menschenrechten gebunden ist", betont Michalski.