Wie Sanktionen Russland treffen
28. Oktober 2016Die Debatte über Sanktionen gegen Russland wegen Syrien scheint vom Tisch. Nachdem sich die Europäische Union Mitte Oktober dagegen entschieden hat, bemüht sich Moskau, keinen Anlass für eine Neuauflage zu geben. Nach internationaler Kritik wegen ziviler Opfer unterbrach die russische Luftwaffe ihre Bombardements der Rebellen in Aleppo. Russland halte sich zurück, sagte der Präsident Wladimir Putin am Donnerstag auf einer Veranstaltung im südrussischen Sotschi.
Zunächst Einreise-, dann Kreditverbote
Jedes Mal, wenn im Westen über Sanktionen gegen Russland gesprochen wird, melden sich Skeptiker. Die aktuellen Strafmaßnahmen hätten kaum etwas bewirkt, so die Argumentation. Gemeint sind Sanktionen wegen Moskaus Ukrainepolitik.
Die EU, USA, Kanada und andere Länder reagierten auf die Krim-Annexion im März 2014, in dem sie Bankkonten von russischen Politikern sperrten und ihnen die Einreise verboten. Als in der Ostukraine ein Krieg eskalierte, wurden Wirtschaftssanktionen verhängt. Sie trafen vor allem manche russische Banken, die keine Kredite mehr im Westen bekommen. Zum anderen wurde für russische Öl- und Gasförderfirmen der Zugang zum westlichen Knowhow eingeschränkt. Russland reagierte mit einem Einfuhrverbot für westliche Lebensmittel.
Russlands "neue Wirtschaftsrealität"
Eine Bestandsaufnahme nach zwei Jahren erscheint schwierig, weil sich die Wirkung der Sanktionen schwer von anderen Faktoren trennen lässt. So hat die russische Wirtschaft bereits vor der Krim-Annexion Schwäche gezeigt. Auch die 2014 eingebrochenen Weltmarktpreise für Öl und Gas, Russlands wichtigste Exportgüter und Haupteinnahmequelle für den Staatshaushalt, trafen das Land hart, heißt es in Moskau. In Zeiten immer knapper werdender Staatskassen investiert die Regierung trotzdem viel in die Armee und kürzt an anderen Stellen. Die Bevölkerung spürt das, doch es hat wenig mit Sanktionen zu tun.
Fest steht, dass sich in Russland ein neuer Ausdruck etabliert hat. Es heißt "neue Wirtschaftsrealität". Dieser neutral klingende Begriff umschreibt eine Lage, die man auch Krise nennen könnte. Gemeint sind Bedingungen, in denen Russland seit der Krim-Annexion lebt: westliche Sanktionen, niedrige Ölpreise, Abwertung des Rubels, Rezession, Inflation. Die Regierung des Ministerpräsidenten Dmitrij Medwedew geht davon aus, dass Sanktionen und niedrige Ölpreise mittelfristig erhalten bleiben. Der Kremlchef Putin betont, Russland habe sich an die neue Lage erfolgreich angepasst.
Kudrin: Sanktionen kosten Russland ein Prozent des BIP
Dabei spottete man zunächst über westliche Maßnahmen. Hübsche Russinnen machten Werbung für T-Shirts mit dem Slogan "Topol" hat keine Angst vor Sanktionen". "Topol" ist eine russische Interkontinentalrakete. Solche Witze hört man inzwischen immer seltener. Auch Putin räumte ein, Sanktionen seien spürbar. Die größte Gefahr sei der eingeschränkte Zugang zu Technologien, sagte der Kremlchef auf einer Konferenz in Moskau Anfang Oktober.
Auch die meisten Russen haben die Sanktionen gespürt. 72 Prozent gaben in einer Umfrage des renommierten Meinungsforschungsinstituts Lewada-Zentrum im August zu, dass Sanktionen die Wirtschaftslage beeinflusst haben. Fast genauso viele lehnen jedoch eine Politikänderung Russlands ab. Nur jeder fünfte plädierte für Kompromisse und Zugeständnisse, um Sanktionen loszuwerden.
Welche konkreten Folgen haben die Sanktionen bisher gehabt? Der ehemalige Finanzminister Alexej Kudrin schätzte am Donnerstag, das russische Bruttoinlandsprodukt verliere jährlich "zwischen 0,8 und 1" Prozentpunkte des Wachstums. Vor einem Jahr bezifferte er den Verlust auf 1,5 Prozentpunkte. Die einfachen Russen spürten dies vor allem in ihrem dünner gewordenen Portemonnaie. Die Lebensmittelpreise sind in den vergangenen zwei Jahren um ein Drittel gestiegen – eine Folge russischer Gegensanktionen. Auch die Zahl der in Armut lebenden Russen stieg in den vergangenen zwei Jahre um 2,5 Millionen – auf 21,4 Millionen im ersten Quartal 2016, so das statistische Amt Rosstat.
Prognose: Auf Stabilisation folgt Stagnation
Zuletzt gab es Anzeichen, dass sich die russische Wirtschaft langsam stabilisiert. Der Niedergang ist noch nicht gestoppt, allerdings hat sich das Tempo verlangsamt. Die US-Ratingagentur Standard and Poor's verbesserte im September ihre Prognose für rund 20 führende russische Unternehmen, darunter Ölgiganten wie Rosneft. Die Agentur geht davon aus, dass sich die russische Wirtschaft an die neuen Bedingungen angepasst habe und wieder wachsen könnte. Nach dem Einbruch 2014 und 2015 dürfte die Wirtschaft in diesem Jahr nur gering schrumpfen. Für die kommenden drei Jahre rechnet die Regierung mit einem Wachstum zwischen 0,6 und 2,1 Prozent bis 2019.
Langfristig schätzt das Wirtschaftsministerium die Entwicklung eher pessimistisch ein. In den kommenden 20 Jahren werde es Stagnation und ein bescheidenes Wachstum geben, heißt es in einer neuen Analyse des Ministeriums, wie die Moskauer Zeitung "Vedomosti" Ende Oktober berichtete.
Eine Frage des Blickwinkels
Politisch gesehen scheint die Bewertung, ob Sanktionen erfolgreich sind oder doch nicht, eine Frage des Blickwinkels zu sein. Ihr Hauptziel, den Krieg in der Ostukraine zwischen der ukrainischen Armee, den pro-russischen Separatisten und ihren Helfern aus Russland zu beenden, haben die Sanktionen noch nicht erreicht. Die Waffenruhe ist brüchig. Doch ein befürchteter großer Krieg zwischen Kiew und Moskau ist bisher ausgeblieben. Manche sehen darin eine Folge der Sanktionen und sprechen vom Erfolg.
Für die Wirkung der Sanktionen spricht wohl indirekt auch die Tatsache, dass Russland immer lauter ihre Aufhebung fordert.