Westbalkan: Angriff auf Europas Friedensordnung
8. Mai 2021Eindrucksvoll ist er, der Film "Quo Vadis, Aida" von Jasmila Zbanić, der bei den diesjährigen Oscars als "bester fremdsprachiger Film" nominiert worden war. Bewegend zeichnet die bosnische Filmemacherin die Verzweiflung der Menschen in Srebrenica nach, als serbische Truppen, angeführt von General Ratko Mladić, im Juli 1995 die kleine Gemeinde in Ostbosnien überrollten, um im Feld zu exerzieren, was erklärtes politisches Ziel war: die Erschaffung eines Groß-Serbiens. Dafür wurden mehr als 8300 Männer und Jungen getötet, die meisten von ihnen Muslime. Ein Völkermord auf europäischem Boden.
Zbanićs Film ist eine Mahnung - und sie kommt zur rechten Zeit. Denn knapp 26 Jahre, nachdem der Krieg in der ex-jugoslawischen Republik Bosnien und Herzegowina mit dem Friedensabkommen von Dayton beendet wurde, ist das Land neuerlichen Angriffen ausgesetzt.
Wie schon in den 1990er Jahren, als der kroatische Präsident Franjo Tudjman und der serbische Machthaber Slobodan Milošević Bosnien unter sich aufteilen wollten und in der Folge Kriegsverbrechen lancierten, versuchen unbelehrbare Extremisten nun das zu Ende zu bringen, was die Warlords damals nicht vollendeten: Bosnien samt seiner Multiethnizität zu zerstören.
Neuerlich kursieren Teilungsphantasien, die die Existenz der Republik in der Mitte Ex-Jugoslawiens in Frage stellen. Ein sogenanntes Non-Paper soll Medienberichten zufolge aus der Feder des slowenischen Premiers Janez Janša stammen; das geleakte Papier propagiert unmissverständlich neue Grenzziehungen entlang ethnischer Linien. Beobachter gehen davon aus, dass Teile in Budapest verfasst wurden - offenbar Ergüsse aus dem Zirkel um Ungarns Premier Viktor Orbán, die Einflussnahme völkisch-populistischer Strömungen ist evident.
Vertreibung, Mord, Massenvergewaltigungen
Im Kern wird die Schaffung eines Groß-Serbiens, eines Groß-Kroatiens und eines Groß-Albaniens formuliert. Das bedeutet ein gefährliches Revival jener Ideologien, die seit Beginn der 90er Jahre schon mehrmals zu Vertreibung, Mord und Massenvergewaltigungen auf dem Westbalkan führten. Und die trotzdem noch immer ihre Befürworter haben.
Schon lange lobbyiert etwa Kroatien in Brüssel für eine vermeintlich mildere Variante der Separation Bosniens. Gemeint ist freilich dasselbe: Kroatisch-bosnische Extremisten trachten nach einer eigenen, dritten "Entität". Man will eine Vertiefung der ethnischen Spaltung - und am liebsten den Anschluss an das kroatische Mutterland. Derweil kommen aus Belgrad immer aggressivere Töne: Die Vereinigung der serbischen Welt habe längst begonnen, erklärte dieser Tage der serbische Innenminister, Aleksandar Vulin, sie sei "nicht mehr aufzuhalten".
Warnung aus Bosnien
Gedankenspiele über eine "friedliche Auflösung" Bosniens stellen ernst zu nehmende Angriffe auf die derzeitige Friedensordnung dar, entsprechend alarmiert klingt der jüngste Bericht des Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft in Bosnien, Valentin Inzko, an den UN-Sicherheitsrat.
Zwar schließt der deutsche Außenminister Heiko Maas Grenz-Veränderungen kategorisch aus. Die Frage ist jedoch: Wie sehr ist man in Berlin und Brüssel bereit, dies den provozierenden Machtzirkeln - von Zagreb über Ljubljana bis nach Budapest und Belgrad - unmissverständlich klar zu machen und dafür zu sorgen, dass die blutige Politik der Ethno-Nationalisten als Zukunftsvision nicht weiter gesponnen werden darf?
Die Schwäche der EU
Nicht zuletzt offenbart sich in den jüngsten Vorstößen auch die Schwäche der Europäischen Union, durch die sich in der Region ein gefährliches Vakuum ausgebildet hat. So vermochte es Brüssel bislang nicht, dem Westbalkan eine klare EU-Integrationsperspektive aufzuzeigen. Statt auf kompromisslose Demokratisierung setzte man auf eine fragwürdige Komplizenschaft mit den regierenden Ethno-Clans und trug dazu bei, dass die korrupten Eliten ihre Macht festigen konnten und sich extremistische Agenden verstärkten.
Bestes Beispiel für die fehlgeleitete Appeasement-Politik war die anrüchige "Land-Swap"-Initiative zu Serbien und Kosovo; zudem legitimierte die EU 2020 in Bosnien mit dem sogenannten Mostar-Deal ausgerechnet jene nationalistischen Parteien, die das Land seit Jahren in einer Dauerparalyse halten. Gleichzeitig lässt man jene Akteure im Stich, die eigentlich Europas Verbündete sind: Bürgerrechtlerinnen wie die Publizistin Stefica Galić, die bedroht werden, weil sie sich den Macht-Kartellen in Mostar entgegen stellt.
Gefährliche Dominoeffekte
Brüssel wäre gut beraten, den spukenden Narrativen von gesäuberten Ethnokratien endgültig ein Ende zu bereiten, insbesondere innerhalb der EU. Gefährliche Dominoeffekte zeichnen sich schon jetzt ab: Serbiens Präsident Aleksandar Vučić, der der deutschen Außenpolitik lange als Stabilitätsanker galt, versucht durch gezielte Einflussnahmen nicht nur Bosnien, sondern auch die Nachbarstaaten Montenegro und Kosovo zu destabilisieren.
Auch Kroatien befeuert zunehmend ungehemmt den Kalten Krieg gegenüber dem fragilen Nachbarn Bosnien: So zeigte Präsident Zoran Milanović vor wenigen Tagen, wie wenig das jüngste EU-Mitglied von einer Abkehr der menschenverachtenden Ideologien hält: Ungeniert empfing der Kroate einen verurteilten Kriegsverbrecher aus eben jenen kroatisch-bosnischen Verbänden (HVO), die im Bosnien-Krieg Zivilisten ermordeten.
Gegen den Frieden
Nicht jeder, der vom Internationalen Jugoslawien-Tribunal in Den Haag verurteilt wurde, sei ein Kriegsverbrecher, so die These des kroatischen Staatsoberhauptes. Einer aktuellen Studie zufolge hat Kroatien auch seine faschistische Vergangenheit im 2. Weltkrieg kaum aufgearbeitet: Nur rund ein Drittel der befragten Jugendlichen stimmt der Tatsache zu, dass der damalige "Unabhängige Staat Kroatien" NDH eine Marionette Nazi-Deutschlands war.
Fest steht: Stabilokratien mit geistigen Brandstiftern an der Spitze sowie Schein-Lösungen entlang ethnischer Linien sind kein Rezept für die Zukunft des westlichen Balkans - sondern sie stehen der Schaffung eines friedlichen Europas entgegen. Der Westen müsse daher umgehend reagieren, fordert der US-Balkanexperte Daniel Serwer in einem eigenen Non-Paper und verweist auf den wachsenden Einfluss Russlands und Chinas.
Sollte die Region weiter auf sich gestellt bleiben, so Serwer, hätte dies größere Instabilitäten, ethnische Konflikte und ein Anwachsen von Migration zur Folge. Gelingt es der EU nicht, das Zündeln zu unterbinden, erscheinen neue Gewaltexzesse nicht mehr ausgeschlossen. Der letzte Versuch, eine Vereinigung der Serben zu vollziehen, warnt der bosnische Publizist Dragan Bursać, habe im Genozid geendet.
Die Politologin und Journalistin Marion Kraske leitete von 2015 bis 2021 das Büro der Heinrich-Böll-Stiftung für Bosnien-Herzegowina, Nord-Mazedonien und Albanien mit Sitz in Sarajevo.