"In Bosnien wird es keinen Krieg mehr geben"
18. November 2020DW: 25 Jahre sind seit dem Friedensabkommen von Dayton vergangen, durch das auch Ihr Amt, das des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina, geschaffen wurde. Im Land herrscht seitdem Frieden. Was machen Sie eigentlich noch hier, wenn Ihre eigentliche Aufgabe die Implementierung dieses Friedens ist?
Valentin Inzko: Hier gab es 100.000 Tote. Es gab fürchterliche Auseinandersetzungen und das ist alles noch sehr lebendig. Gottseidank gab es keine Racheakte nach diesem Krieg. Und man muss eben danach trachten, dass dieser Friede sich konsolidiert, dass der Staat ein normaler Staat wird, dass er normal funktioniert, und dass sich dann die Internationale Gemeinschaft einmal zurückziehen kann. Ich würde sagen, die Präsenz der Internationalen Gemeinschaft ist immer noch notwendig.
Warum?
Ich messe das auch an anderen Staaten, etwa Zypern: da sind schon 60 Jahre Friedenstruppen. Ich messe das auch an Deutschland: da standen 45 Jahre lang alliierte Kräfte. Aus internationaler Präsenz wird dann schließlich Freundschaft. Wir haben zum Beispiel das Internationale Tribunal für die Kriegsverbrechen im früheren Jugoslawien, das war auch notwendig. Aber natürlich soll die Zukunft so sein, dass die heimischen Gerichte diese Fälle übernehmen.
Dayton hat Bosnien Ende 1995 nach knapp vier Jahren Krieg den Frieden gebracht. Aber es gibt sehr viele Kritiker, die sagen, das Abkommen habe die Teilung des Landes zementiert. Was muss geschehen, damit sich Bosnien weiterentwickelt? Braucht es vielleicht ein "Dayton 2"?
Dayton 2 wäre notwendig, Dayton 2 wäre nützlich. Es geht hier um die Funktionalität des Staates. Bosnien wird nie ein zentralisierter Staat werden, aber die Funktionalität muss verbessert werden. Gewisse Dinge dauern einfach viel zu lange. Nach außen müssten alle den Staat hochhalten. Und das wäre mein Ideal. Und niemand wird dadurch irgendetwas verlieren. Keiner wird die serbische Sprache verlieren, die Bosniaken nicht die bosnische, die Kroaten nicht die kroatische. Die Kantone werden autonom bleiben et cetera.
Inwieweit ist Bosnien inzwischen eine Demokratie geworden?
Bosnien ist eine Demokratie im Entwicklungsstadium. Das geht nicht von heute auf morgen. Aber Bosnien hat in einigen Bereichen eine gute Entwicklung gemacht, eine demokratische. Und in einigen anderen nicht. Vor allem wundert es mich, dass die Bürger so unzufrieden sind - und dann wählen sie immer wieder die gleichen Politiker. Das ist schon interessant.
Warum wählen so viele Bürgerinnen und Bürger Bosniens immer wieder die gleichen nationalistischen Politiker?
Einerseits gibt ihnen das eine gewisse Sicherheit. Andererseits haben sie vielleicht Angst. Und vielleicht sind einige sogar zufrieden und wählen wieder die gleichen Politiker, damit das so weitergeht.
Sie haben neulich gesagt, dass in Bosnien immer noch Krieg herrsche - allerdings nicht mit Waffen, sondern in den Köpfen. Was meinen Sie genau damit und müssen wir Angst haben, dass in diesem Teil Europas wieder richtiger Krieg ausbricht?
Ich habe das präzisiert in dem Sinne, dass gewisse Kriegsziele noch weiter bestehen. Und ein Kriegsziel war die Unabhängigkeit der serbisch dominierten Gebiete, der Republika Srpska. Und für einige war das Kriegsziel die Schaffung eines kroatischen Teilstaates, den es unter dem Namen Herceg-Bosna eine Zeit lang auch gegeben hat und den einige rekreieren wollen. Das habe ich gemeint: dass Kriegsziele zum Teil noch in den Köpfen von gewissen Menschen weiter bestehen.
Müssen wir Angst haben vor einem richtigen Krieg?
Ich glaube nicht. In Bosnien wird es keinen Krieg mehr geben. Aber man muss auch die Kriegsziele aufgeben: die Lostrennung der Republika Srpska oder von Herceg-Bosna. Das muss man aufgeben. Aber natürlich muss niemand seine Identität aufgeben.
In Europa gilt Bosnien-Herzegowina als Sorgenkind. Der komplizierte Staatsaufbau lähmt die Entwicklung des Landes genauso wie die nationalistische Rhetorik vieler bosnischer Politiker. Als Hoher Repräsentant sind Sie mit den sogenannten Bonner Vollmachten ausgestattet, das heißt, Sie können in Gesetze eingreifen und Politiker absetzen. Warum setzen Sie diese Machtmittel nicht etwas radikaler ein, um Bosnien voranzutreiben?
Die Bonner Vollmachten wurden vom damaligen Bundesaußenminister Kinkel aus der Taufe gehoben in Bonn. Deshalb heißen sie auch so. Das war 1997. Da hat man gesehen, dass nur mit Zureden und netten Worten das Leben hier nicht geändert werden kann, die Politiker nicht geändert werden können. Wir haben auch ungefähr 200 Mal böse Politiker entfernt...
Was meinen Sie mit "böse Politiker"?
Leute, die die Verfassung gebrochen oder den Dayton-Vertrag verletzt haben. Oder Leute, die Radovan Karadžić, Momčilo Krajišnik oder anderen Kriegsverbrechern geholfen haben, sich zu verstecken et cetera.
Aber das war in der ersten Phase, einer sehr kräftigen, robusten Phase. Dann kam die zweite Phase, und da haben wir gesagt, jetzt beginnt die Phase der lokalen Verantwortung. Ab jetzt wird es nur noch lokale Lösungen geben. Die lokalen Politiker werden selbst Institutionen schaffen und so weiter.
Aber ich muss leider sagen: Diese Instutionen gibt es auch nach zehn Jahren noch nicht. Deshalb ist die Internationale Gemeinschaft jetzt dabei, darüber nachzudenken, ob nicht wieder eine neue Phase eintreten soll. Aber es ist noch keine Entscheidung gefallen.
Was meinen Sie, wie lange wird die internationale Präsenz, wie lange wird der Hohe Repräsentant noch gebraucht in Bosnien und Herzegowina?
So kurz wie möglich. Wir hatten ja schon eine Phase 2008/2009, in der unter meinem Vorgänger Miroslav Lajčak die Agenda 5+2 entworfen wurde, nach der Bosnien fünf Tagesordnungspunkte erledigen und zwei Bedingungen erfüllen muss: das frühere Staatseigentum des ehemaligen Jugoslawiens regulieren, dann das der ehemaligen Jugoslawischen Volksarmee, dann die Rechtsstaatlichkeit, die finanzielle Stabilität und den Status des Distrikts Brčko. Das sind die fünf Tagesordnungspunkte.
Zudem gab es zwei Bedingungen. Die erste ist schon erfüllt, das ist der sogenannte Stabilisierungs- und Assoziierungsvertrag mit der EU, der im Jahr 2015 unterschrieben wurde. Die zweite Bedingung lautet: eine positive Einschätzung der politischen Situation. Die Absicht war, mich nach Hause zu schicken nach einigen Monaten oder Jahren...
… Sie sind aber noch immer in Bosnien!
Eben. Hätten die lokalen Politiker diese Agenda erfüllt, hätten wir Lösungen - und ich könnte nach Hause gehen. Aber die fünf Tagesordnungspunkte wurden nicht erfüllt und von den beiden Bedingungen nur eine. Bei gutem politischem Willen hätte man die 5+2-Agenda in einem Jahr umsetzen können, eventuell sogar in kürzerer Zeit. Aber diesen Willen gibt es nicht.
Das heißt, die internationale Gemeinschaft bleibt vorerst in Bosnien präsent?
Sie ist nützlich und soll bleiben, bis sich die Dinge in Bosnien völlig konsolidieren. Und auch dann soll noch ein Monitoring-Mechanismus übrig bleiben, damit wir sehen, dass die Stabilität endgültig und unumkehrlich ist für ewige Zeiten. Das ist im Interesse des Landes, der Menschen hier - aber auch in unserem Interesse. Wir wollen schließlich keine Konflikte importieren.
Das Interview führte Marina Martinović
Der Österreicher Valentin Inzko bekleidet das Amt des Hohen Repräsentanten der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien und Herzegowina seit 2009. Zuvor war er jahrelang als Diplomat seines Landes in den Ländern des ehemaligen Jugoslawiens tätig. Inzko spricht ausgezeichnet Bosnisch, Kroatisch und Serbisch.