Bosnien wartet bis heute auf den Frieden
19. November 2020Im November 1995 reüssierten die Friedensmacher der internationalen Bosnien-Kontaktgruppe scheinbar, die Interessen und Ziele der drei bosnischen Konfliktparteien, den beiden Nachbarstaaten Serbien und Kroatien sowie der Staatengemeinschaft am Verhandlungstisch unter einen Hut zu bringen. Nach dreieinhalb Jahren Krieg präsentierten sie einzelne Kompromisse und Korrekturen - aber keine grundsätzliche Revision der Aufteilung des Landes entlang ethnischer Linien.
Im Bosnien-Krieg hatten die muslimischen Bosniaken (43,5 Prozent der Bevölkerung) für ein zentral regiertes Staatswesen gekämpft, die bosnischen Serben (31,2 Prozent) und Kroaten (17,4 Prozent) dagegen für einen serbischen bzw. kroatischen Teilstaat innerhalb einer bosnischen Konföderation - und eventuell für einen späteren Anschluss an die jeweilige Mutternation, also die Nachbarstaaten Serbien und Kroatien.
Von Frühjahr 1992 bis Ende 1995 hatten die Konfliktparteien Hunderttausende aus den jeweils beanspruchten Regionen vertrieben. Den "ethnischen Säuberungen" - das heißt gewaltsame Vertreibung - fielen zuallererst die Bosniaken zum Opfer. Aber auch viele Serben und Kroaten wurden systematisch vertrieben.
Die Quadratur des Kreises gelang den internationalen Vermittlern bei den Verhandlungen auf der US-Luftwaffenbasis in Dayton/Ohio vom 1. bis zum 21. November 1995 freilich nur vordergründig. Im Friedensvertrag, der am 14. Dezember 1995 in Paris unterschrieben wurde, blieb Bosnien und Herzegowina zwar als Gesamtstaat in seinen bisherigen Grenzen erhalten, wurde jedoch in zwei Entitäten zerlegt: die serbisch dominierte "Republika Srpska" sowie die "Föderation Bosnien-Herzegowina", in der sich Kroaten und Bosniaken die Macht teilen. Über einem Dickicht aus lokalen, regionalen und nationalen Regierungen, Parlamenten und Verwaltungen steht der Gesamtstaat. Oberste Instanz ist das dreiköpfige Staatspräsidium, in dem je ein Bosniake, Serbe und Kroate vertreten sind.
Wem gehört Bosnien?
Der komplizierte Verfassungsaufbau kann 25 Jahre nach Kriegsende kaum verschleiern, dass es in der politischen Klasse weiterhin keinen Willen zur Kooperation gibt - und unter den Bürgern kein gemeinsames Staatsverständnis. Der Ungeist des Nationalismus aus dem 19. Jahrhundert, der mit dem Zerfall des Vielvölkerstaats Jugoslawien 1991 wieder erwacht war, beherrscht bis heute die bosnische Politik. Orthodoxe Serben, muslimische Bosniaken und katholische Kroaten streiten weiter darüber, "wem Bosnien gehört".
Die kleine Provinz, in der es keine eindeutige Mehrheitsnation gibt, gehörte seit dem 15. Jahrhundert zum Osmanischen Reich, ehe sie 1878 faktisch an die Habsburgermonarchie fiel. In Jugoslawien, dem Staat aller Südslawen, war der Konflikt um Bosnien neutralisiert. Vor der Gründung des südslawischen Königreichs nach dem Ersten Weltkrieg hatten Bosniaken, Kroaten, Serben und andere Südslawen jeweils verstreut in unterschiedlichen Großreichen und administrativen Einheiten gelebt. Folglich war Jugoslawien der erste Nationalstaat aller südslawischen Völker.
"Jugoslawien im Kleinen"
Nach dem Zweiten Weltkrieg verordneten die siegreichen kommunistischen Partisanen unter Josip Broz Tito "Brüderlichkeit und Einheit". Bosnien wurde zum gemeinsamen Staat von Bosniaken, Kroaten und Serben sowie etlicher Minderheiten erklärt. Das war ebenso idealistisch gedacht wie pragmatisch gehandelt, denn alle drei Völker sprechen eng verwandte Dialekte. Und keine einzige Gemeinde des Landes war damals ethnisch homogen.
Die Frage, wem Bosnien gehöre, wurde erst erneut virulent, als sich Jugoslawien 1991 auflöste. Auf deutschen Druck entschied die damalige Europäische Gemeinschaft Ende 1991, die Teilrepubliken Jugoslawiens, sofern sie dies wollten, in ihren bestehenden Grenzen als eigenständige Staaten anzuerkennen. Bosnien als "Jugoslawien im Kleinen" zu erhalten, während der äußere Rahmen des Vielvölkerstaats zerfiel, erwies sich allerdings als illusorisch. Denn plötzlich stand die nationale Einheit der Serben und der Kroaten auf der Tagesordnung.
Ein unbefriedigender Frieden
Besonders virulent war das für die Serben, von denen ein Drittel außerhalb der bisherigen jugoslawischen Teilrepublik Serbien lebte. Aber in Bosnien gab und gibt es auch viele Kroaten. Alte Forderungen, den multinationalen Staat nach ethnischen Kriterien aufzuteilen, wurden neu entfacht. Dort, wo die Siedlungsverhältnisse die politischen Ansprüche nicht legitimieren konnten, wurden sie während des Krieges passend gemacht. Im Unterschied zu den Kriegen in Slowenien (1991) und Kroatien (1991-95) ging es in Bosnien nicht darum, Territorien neu zu verteilen - sondern um die Existenz dieses Staates an sich.
Der Ausgang des Krieges war für alle Seiten unbefriedigend. Die Bosniaken durften sich als moralische, nicht aber als politische Gewinner des Dayton-Abkommens betrachten. Ihr Kriegsziel, einen bosniakischen Nationalstaat zu errichten, konnten sie nicht verwirklichen, auch wenn man sie als Hauptopfer von Vertreibung und Massengewalt anerkannte.
Srebrenica als Identität stiftendes Narrativ
Bosniakische Nationalisten schließen das Zusammenleben und die Machtteilung mit den Serben bis heute kategorisch aus. Das Massaker von Srebrenica dient ihnen als "chosen trauma", als Gemeinschaft und nationale Identität stiftendes Narrativ, das die Opfererfahrung in den Mittelpunkt stellt. So wird das legitime und notwendige Gedenken an die Opfer politisch instrumentalisiert.
Hingegen konnten die bosnischen Serben, die für einen serbischen Staat in Bosnien in den Krieg gezogen waren, dieses Ziel durch Gewalt, Vertreibung und Völkermord erreichen - auch wenn sie in Dayton nicht alle territorialen Forderungen durchsetzen konnten. Allerdings standen sie als Hauptkriegsverbrecher am Pranger, waren sogar offiziell von den Friedensverhandlungen ausgeschlossen. In Dayton wurden sie vom Präsidenten Serbiens vertreten.
Kriegsverbrecher als Helden
Die politische Führung der bosnischen Serben nimmt sich seitdem das Recht heraus, die Umsetzung des Friedensvertrags nach Kräften zu hintertreiben. Sie leugnet den Genozid an mehr als 8.300 bosniakischen Jungen und Männern im ostbosnischen Srebrenica 1995, rechtskräftig verurteilte Kriegsverbrecher gelten ihr als Helden. Je länger Dayton zurückliegt, desto lautstarker wird gegen die staatliche Einheit Bosniens polemisiert und die Unabhängigkeit der Republika Srpska gefordert.
Aber auch die nationalistischen Kroaten treten als Totengräber des Dayton-Abkommens auf. Denn einerseits kamen sie beim Friedensschluss moralisch und politisch glimpflich davon. Andererseits finden sie es ungerecht, dass sie als eines von drei staatsbildenden Völkern keine eigene Entität erhalten haben. Sie fordern eine grundsätzliche Neuordnung des bosnischen Staates.
Die große Leistung von Dayton war es, dass das Töten in Bosnien beendet wurde. Das gravierende Versäumnis aber bestand darin, einen Rahmen geschaffen zu haben, der es den Konfliktparteien erlaubt, den Krieg mit nicht-militärischen Mitteln fortzusetzen. Trotz gewaltiger äußerer Hilfen ist Bosnien und Herzegowina bis heute ethnisch, politisch, institutionell und mental tief gespalten. In Dayton wurde der heiße Krieg beendet. Ein echter Frieden wurde nicht hergestellt.
Marie-Janine Calic ist Professorin für Geschichte Ost- und Südosteuropas an der LMU in München. Sie ist u.a. Autorin der Bücher "Geschichte Jugoslawiens" (München 2019) und "Tito. Der ewige Partisan" (München 2020).