Wenn ein Leben in zwei Koffer passt
6. August 2015Radevormwald. Der Ortsname klingt nach Provinz. Und tatsächlich: Die nordrhein-westfälische Kleinstadt liegt abseits der Metropolen Köln und Düsseldorf mitten im "Bergischen Land". Allein der Name des Stadtparks "Parc de Châteaubriant" sorgte bislang für etwas internationales Flair. Dies galt so lange bis die Flüchtlinge kamen. Ein paar Dutzend sind es jetzt, die in der ehemaligen Grundschule an der Blumenstraße untergebracht sind. Alaa Houd kam im Herbst 2014 nach Deutschland - nach einer Odyssee, die ihn fast das Leben gekostet hätte.
Seine erste dauerhafte Bleibe in Deutschland ist schnell beschrieben: ein Zimmer, 20 Quadratmeter, die er sich mit drei anderen Flüchtlingen teilt. Dielenboden, ein Bett für jeden. Der einzige Luxus: ein kleiner schwarzer Kasten hinten rechts neben der Gardinenstange, der WLAN-Router. Seine Verbindung zur Welt, mit der er zum Beispiel Filme auf seinem Smartphone gucken kann. Eine der wenigen Möglichkeiten, der Alltagstristesse im Flüchtlingsheim zu entkommen. Alaa Houd grinst: "Fünf Euro pro Monat". Und er sagt den einen deutschen Satz, der im Laufe des Tages noch häufiger fallen wird: "Alles gut."
Abschied mit lachendem und weinendem Auge
Alles gut? Na ja. Die Flüchtlingsunterkunft in Radevormwald wird Houd sicher nicht vermissen, wenn er jetzt nach Bonn umzieht, seine Mitbewohner allerdings schon: "Diese Jungs sind für mich in den vergangenen zehn Monaten wie eine Familie gewesen", sagt der 28-Jährige beim Abschied.
Fast alle hier sind junge Männer in seinem Alter. Sie kommen aus Syrien, dem Irak oder Eritrea. Viele haben auf der Flucht ähnliche Situationen durchlebt. Das schweißt zusammen. Tränen gibt es nicht zum Abschied, wohl aber das männliche Äquivalent dazu: Ein paar derbe Sprüche fliegen noch hin und her, bevor Alaa Houd in seinen neuen Lebensabschnitt startet. Viel hat er nicht an Gepäck. Zwei Koffer und eine Plastiktüte. Einen Umzug kann man das kaum nennen. Und dennoch: Alle hier spüren, dass dies ein bedeutender Tag im Leben des jungen Syrers ist.
Nächste Station Bonn
"Die Zeit in Radevormwald war eine Phase des Übergangs für mich", erzählt Houd auf dem Weg nach Bonn. "Wie wenn man in einem Wartezimmer sitzt und die ganze Zeit darauf wartet, aufgerufen zu werden." Dass das viel Kraft und Nerven gekostet hat, ist ihm allein beim Erzählen seiner Geschichte deutlich anzumerken: "Zehn Monate des Wartens sind eine lange Zeit. Vor allem wenn zu Hause die Familie in Gefahr ist", sagt er und es lässt sich erahnen, wie verzweifelt er bisweilen gewesen sein muss: "Viele Flüchtlinge haben das Gefühl, dass ihnen die Zeit davonläuft. Viele werden depressiv. So viel kann in so kurzer Zeit passieren. Meine Familie kann von einer Bombe getroffen werden, sie könnten sterben."
Der Druck, sich ein Leben in Deutschland aufzubauen und dann schnellstmöglich die Familie nachzuholen, ist enorm hoch. Immerhin hat Houd es geschafft, eine der wichtigsten Hürden zu nehmen: Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) hat seinen Asylantrag genehmigt. Erst danach durfte er überhaupt anfangen, sich einen Job und eine eigene Wohnung irgendwo in Deutschland zu suchen.
Doch auch für ihn als Asylberechtigten ist der Weg weiterhin oftmals steinig: "Es gibt eine Reihe von Menschen, die wollen aus unserer Situation Kapital schlagen", regt er sich auf und kommt auf die Erfahrungen bei der Wohnungssuche zu sprechen: "Die nehmen Geld, viel Geld, eine Art Provision und besorgen Dir dafür schnell eine Wohnung." Alaa Houds Gesicht verzieht sich: "Für mich ist das einfach nur illegal und schäbig."
Kochrezepte und Englischkenntnisse
Doch er hat mit etwas Hilfe und sehr viel Glück ein Zimmer in einer Wohngemeinschaft in Bonn gefunden. Ganz klassisch über eine Website im Internet. Nach ein paar E-Mails hin- und her wurde er zum "WG-Casting" von seinen beiden künftigen Mitbewohnern eingeladen."
Einer von ihnen ist Nicolas Echarti. Der 26-Jährige arbeitet als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Hochschule Bonn-Rhein-Sieg und freut sich schon auf das Zusammenleben: "Es hat bei uns einfach sofort gepasst. Wir haben uns gleich bei unserem ersten Treffen über eine Stunde unterhalten." Die Sympathie für das neue Zuhause und die neuen Mitbewohner ist auch Alaa Houd deutlich anzumerken. "Das sind einfach nette Menschen", das habe er sofort gespürt. Ihn freue es richtig mit jungen Deutschen zusammenzuwohnen: "Davon könnten doch alle nur profitieren."
Echarti regt sich derweil über die Ignoranz mancher Deutscher auf. Vor allem darüber, dass Flüchtlinge oftmals auf Vorurteile treffen. "Viele Menschen scheren doch alles nur über einen Kamm und sind einfach nur falsch informiert." Klischees und Stigmata würden die Leute verängstigen: Dabei könne doch jemand wie Alaa mit seinen Erfahrungen nur eine Bereicherung für jeden jungen Menschen in Deutschland sein. "Und wenn es nur darum geht, Englischkenntnisse aufzupolieren, oder ein paar syrische Rezepte auszutesten" lacht er. An neuen Ideen in der Küche wird es in der nächsten Zeit in der WG nicht mangeln.
Ob auch künftig viel Englisch in der WG gesprochen wird, scheint fraglich. Außer einen Job zu finden, plant Alaa Houd vor allem eines: Er will Deutsch lernen: "Deutschland ist jetzt auch mein Land. Da muss ich doch die Sprache können". Große Pläne und viel zu tun also für den jungen Syrer.
In seinem Zimmer dürfte er auch noch ein wenig werkeln. Ein bisschen karg schaut es noch aus: Das Bett ist eigentlich nur eine Matratze und vom Vormieter übernommen, ein Schrank muss noch besorgt werden, und ein paar Poster könnte die Wand auch noch vertragen. Wie im Flüchtlingsheim ist auch Houds neues Zimmer 20 Quadratmeter groß. Doch dieses Mal hat er es für sich alleine. Fürs Erste also: alles gut.