Drei Stunden im Mittelmeer
20. April 2015Um fünf Uhr morgens beginnt für Alaa Houd der wohl längste Tag seines Lebens. Gemeinsam mit weiteren syrischen Flüchtlingen steigt er im türkischen Izmir in ein Schlauchboot. Ihr Ziel: eine griechische Insel in der Ägäis. Doch die Überfahrt wird zur Odyssee für den 28-jährigen Syrer: "Mitten auf dem Meer begann unser überladenes Boot zu sinken", so erzählt der junge Mann der DW. "Einige Flüchtlinge wollten beim Boot bleiben und hofften, dass die türkische Küstenwache sie retten würde."
Doch Houd und einige andere Männer entscheiden sich, in Richtung Griechenland zu schwimmen. "Wir wollten unserem Ziel näher kommen", sagt Houd. "Wenn uns die türkischen Behörden gefunden hätten, dann wären wir dort vielleicht ins Gefängnis gegangen und hätten monatelang bis zum nächsten Versuch warten müssen." Das habe er sich nicht leisten können. "Deshalb haben wir uns entschieden, in Richtung Griechenland zu schwimmen."
Leben in Todesangst
Drei Stunden lang ist Houd im Wasser. Dann kommt die griechische Küstenwache und fischt ihn und seine Begleiter heraus. Ob er Todesangst gehabt habe? "Nein", sagt Houd und muss dabei bitter lachen. "Drei Jahre lang habe ich in Syrien ein Leben geführt, in dem der Tod mir immer nah war." Sein Heimatort Al-Kiswah südlich von Damaskus sei sowohl von Regierungstruppen als auch der Al-Nusra-Front und der Freien Syrischen Armee angegriffen worden. Man habe ihn zwingen wollen, sich einer Partei anzuschließen und zu kämpfen. "Mitten im Meer zu schwimmen ist weniger schlimm, als von Bomben und Kugeln bedroht zu sein", so Houd weiter. "In Syrien geht man nichtsahnend über eine Straße und plötzlich fallen einem Bomben auf den Kopf."
Alaa Houd beschreibt damit die Motivation Hunderttausender Flüchtlinge, die jedes Jahr Schutz in Europa suchen. Ihre Zahl sei so hoch wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr, sagt Alexander Betts, der an der Universität von Oxford das Zentrum für Flüchtlingsstudien leitet. Er spricht von einer globalen Flüchtlingskatastrophe, von 50 Millionen Menschen, die weltweit auf der Flucht sind. "Immer mehr davon fliehen vor Konflikten, vor Gewalt und politischer Verfolgung", so Betts. "Und immer mehr kommen nach Europa, weil sie in ihren Heimatregionen weder Schutz noch Hilfe erhalten." Natürlich gebe es auch viele Flüchtlinge, die versuchten, Hunger und wirtschaftlichem Elend zu entkommen und etwa aus Gambia, Senegal oder Mali nach Europa gingen. Hauptursache der derzeitigen Flüchtlingsströme seien jedoch schwere Konflikte, insbesondere der Bürgerkrieg in Syrien. Weil die Nachbarländer Jordanien und Libanon, am Rande ihrer Kapazitäten, kaum noch Syrer aufnehmen, wagten mehr und mehr Menschen die Überfahrt nach Europa. Eine der Hauptrouten führt über die Türkei und Griechenland, eine andere über Libyen.
Kein Staat, viele Schmuggler
"Libyen liegt recht nahe an Europa, das ist ein Sprungbrett nach Italien", sagt Flüchtlingsforscher Betts. "Aber als kaputter Staat bietet Libyen auch beste Bedingungen für Schleuser-Netzwerke." Sie könnten deshalb relativ frei operieren an der Wegkreuzung zwischen Westafrika, dem Horn von Afrika und dem Nahen Osten. Die Menschenschmuggler seien jedoch nur ein Symptom für tiefer liegende Probleme. "Die Verzweiflung der Flüchtlinge schafft die Nachfrage für ihr Angebot", so Betts.
Auch Alaa Houd musste auf Schmuggler zurückgreifen. "Ich habe in Izmir einen Mann getroffen, der sich Abu Faris nannte." Für 1100 Euro organisierte er die Fahrt auf dem Schlauchboot. Trotz des Kenterns: Für Alan Houd ging der Fluchtplan erst einmal auf. Die griechische Küstenwacht brachte ihn zunächst in ein Lager, dann nach Athen. Für 3800 Euro kauft er von einem Mann, der nur "der Afghane" genannt wurde, einen gefälschten tschechischen Pass, mit dem er nach Frankfurt fliegt. Hier setzte der junge IT-Fachmann seine Odyssee fort, von Flüchtlingsunterkunft zu Flüchtlingsunterkunft. In Radevormwald in Nordrhein-Westfalen wartet er nun seit fünf Monaten darauf, dass er in Deutschland als Flüchtling anerkannt wird. Und darauf, seine Frau und seinen drei Jahre alten Sohn ebenfalls aus Syrien herauszuholen. Das, so sagt er, wäre der einzige Grund für ihn, dorthin zurückzugehen.