Ukraine: Der gesprengte Damm zerstört die Landwirtschaft
15. Juni 2023"Mein Land kann ich ohnehin nicht bewirtschaften, seit es von den Besatzern beschlagnahmt worden ist. Aber nun wird es auch kein Wasser mehr geben", sagt der ukrainische Bauer Wasyl R. im DW-Gespräch. "Im vergangenen Februar kamen die Russen und verkündeten, dass die Äcker und das ganze Eigentum meines Betriebs 'verstaatlicht' würden". Aus Sicherheitsgründen musste der Landwirt im vergangenen Jahr die russisch besetzten Gebiete verlassen, seinen echten Namen will er deshalb nicht in den Medien sehen - das könnte seine Eltern gefährden, die noch dort leben.
So wie Wasyl R. geht es vielen Bauern aus der südukrainischen Region Cherson. Sie ist seit Frühjahr 2022 zum Großteil von Russland besetzt, genauso wie die benachbarte Region Saporischschja. Viele Einwohner sind vor den Besatzern in andere ukrainische Gebiete geflohen.
Ohne Wasser kein Anbau
Nur wenige Monate nach der Enteignung war die Zerstörung des Kachowka-Staudamms der nächste Schock für Wasyl R. Seit der Nacht auf den 6. Juni sind die 3000 Hektar, die sein Großbetrieb beackert hatte, von der Bewässerung abgeschnitten und drohen zu veröden. Eine Hiobsbotschaft für ihn und die zahlreichen Bauern in der Südukraine.
Betroffen sind nach Angaben des ukrainischen Landwirtschaftsministeriums fast 600.000 Hektar in der trockenen Südukraine, die ohne das Wasser aus dem zerstörten Staudamm nicht mehr bewirtschaftet werden können. Vor dem Krieg habe man hier bis zu vier Millionen Tonnen Getreide und Ölsaaten im Wert von 1,5 Milliarden US-Dollar geerntet.
Neben den Regionen Cherson und Saporischschja verlieren auch die Bauern auf der von Russland annektieren Krim mit der Zerstörung des Kachowka-Staudamms jegliche Perspektive. Denn der Nordkrimkanal, der sich ebenfalls aus dem riesigen Wasserreservoir des Staudamms am Dnipro speiste, wird nach Expertenmeinung bald austrocknen.
Vor allem besetzte Gebiete betroffen
Mit Blick auf die gesamte ukrainische Wirtschaft dürfte die drohende Verödung dieser Flächen vorerst nur sehr begrenzte Folgen haben. Denn die betroffenen Agrarbetriebe liegen zu einem weit überwiegenden Teil auf dem von Russland besetzten Gebiet. Deren Produktion erreicht schon seit 2022 nicht mehr den ukrainischen Markt, was bereits damals für erhebliche Preissprünge bei landwirtschaftlichen Produkten sorgte. Und Gemüseimporte stiegen um 66 Prozent.
Cherson produzierte vor dem Krieg zwölf Prozent der gesamten Gemüseernte des Landes, und das bei einem Anteil von nur etwas mehr als zwei Prozent der Agrarfläche. Seit Kriegsbeginn verlor die Ukraine 36 Prozent der gesamten Tomatenernte. "Die Tomaten aus der Südukraine sind die besten, besonders süß im Geschmack. Mit ausreichender Bewässerung reifen sie unter der südlichen Sonne besonders gut", sagt Jurij Lupenko vom Institut für Agrarwirtschaft in Kiew. Nun, ohne Wasser aus dem Kachowka-Stausee, verlören die Bauern in der Südukraine ihre Lebensgrundlage. Gemüse könne dauerhaft zur Mangelware werden, warnt Lupenko.
Schlechte Nachrichten im Kampf gegen den Hunger
Für die ukrainischen Getreideexporte hat die Zerstörung des Staudamms zwar keine unmittelbaren Folgen, weil die betroffenen Gebiete seit 2022 ohnehin von den internationalen Märkten abgeschnitten sind. Dennoch führe jede schlechte Nachricht aus der Ukraine zu Preisschwankungen, warnt Stephan von Cramon-Taubadel, Professor für Agrarwirtschaft an der Georg-August-Universität Göttingen. "Die Anspannung ergibt sich aus der Summe der vielen Unsicherheiten. Die Preise können sehr schnell ausschlagen, wenn weitere Informationen dazukommen."
Unmittelbar nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms seien die Getreidepreise auf internationalen Handelsplätzen im Schnitt um drei Prozent angestiegen. Die Nervosität werde andauern, solange der russische Angriffskrieg gegen die Ukraine weitergehe, betont der Göttinger Agrarökonom. Gute Ernten in den wichtigsten Agrarländern, darunter Russland, sowie positive Prognosen für 2023 bescherten den Importeuren, unter ihnen viele ärmere Länder des globalen Südens, relativ niedrige Preise. Doch auf Dauer könne die Welt im Kampf gegen den Hunger nicht auf große Teile der ukrainischen Agrarproduktion verzichten, betont der Experte.
"Wenn diese Region mittelfristig durch Kriegsschäden wie diesen Dammbruch mehr und mehr in Mitleidenschaft gezogen wird, dann ist es so, als ob wir mit einem auf den Rücken gebundenen Arm in den Krieg gegen den Welthunger ziehen müssten", sagt Stephan von Cramon-Taubadel. Er erinnert daran, wie Russland immer wieder die Verlängerung das Getreideabkommens und damit die Exporte aus der Ukraine infrage stellt, was stets für neue Irritationen sorge.
Hoffnung auf einen Neuanfang nicht aufgegeben
Wasyl R., der Exil-Bauer aus der Region Cherson, lebt zurzeit in der Westukraine. Auch wenn seine Heimatregion bald ohne Bewässerung aus dem Dnipro auszutrocknen droht, setzt er seine ganzen Hoffnungen auf die ukrainische Armee, die in einer Gegenoffensive die russischen Besatzer verjagen soll. "Wir kommen zurück und werden unseren Agrarbetrieb wieder aufbauen. Es wird schwierig, denn wir werden auf der Suche nach Wasser tief in die Erde bohren müssen. Und das wird uns mindestens drei bis fünf Jahre kosten." Dennoch denkt Wasyl nicht daran, aufzugeben.
Tatsächlich sind die Aussichten für die Bauern in der Südukraine alles andere als rosig. Viele mussten wegen der Kamphandlungen oder wegen fehlender Absatzmöglichkeiten ihre Produktion komplett einstellen. Auch die Logistik wird unter der Zerstörung des Staudamms leiden. Denn der Fluss Dnipro wird auf dem letzten Abschnitt vor der Mündung ins Schwarze Meer für die Schifffahrt nicht mehr passierbar sein.