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PolitikUkraine

Angst vor Deportation und Raub in Enerhodar

11. Mai 2023

Die russischen Besatzer haben angeordnet, die ukrainische Stadt Enerhodar zu evakuieren, in der das AKW Saporischschja steht. Die Situation scheint chaotisch. Bewohner berichten.

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Blick auf Gebäude, das Eingangstor zum Gelände und die Mauer um das AKW Saporischschja, davor fährt ein PKW auf der Zufahrtsstraße
Bild: Andrei Rubtsov/TASS/dpa/picture alliance

"Ich bin extrem besorgt über die sehr realen Sicherheitsrisiken", sagt der Chef der Internationalen Atomenergiebehörde (IAEA), Rafael Grossi, über die Situation rund um das von Russland besetzte ukrainische Atomkraftwerk Saporischschja. Ihm zufolge wird die Lage "zunehmend unberechenbarer und potenziell gefährlicher". Daher betont Grossi auf der Website der IAEA: Um die Gefahr eines schweren nuklearen Unfalls und die damit verbundenen Folgen für Bevölkerung und Umwelt zu verhindern, müsse das AKW geschützt werden.

Grossi hatte die größte Nuklearanlage Europas im März besucht. Seine jetzige Warnung sprach er aus, nachdem Moskau angeordnet hatte, die Stadt Enerhodar zu evakuieren, auf deren Gebiet sich das Atomkraftwerk befindet, weil der ukrainische Beschuss angeblich zunimmt. Die meisten Mitarbeiter des AKW Saporischschja leben in Enerhodar.

Chef der IAEA, Rafael Grossi, mit einem UN-Fahrzeug auf dem Weg zum AKW Saporischschja
"Extrem besorgt": Rafael Grossi, Chef der IAEA, auf dem Weg zum AKW SaporischschjaBild: Fredrik Dahl/AFP

IAEA-Experten, die sich in dem Atomkraftwerk befinden, bestätigen, dass die Evakuierung bereits begonnen habe. Nach Angaben der ukrainischen Behörden bringen die Besatzer die Menschen in andere besetzte Teile der Region Saporischschja und auf die Halbinsel Krim.

Kollaboration, Pannen und Panik

"Von der Evakuierung betroffen sind 13 Orte an der Kontaktlinie, darunter Enerhodar, Dniprorudne, Wassyliwka, Tschernihiwka, Polohy, Tokmak, Wodjane und Kamjanka. Man macht den Menschen Angst, warnt vor einer Gegenoffensive der ukrainischen Armee. Deshalb müsse man für zwei Wochen nach Berdjansk evakuiert werden", sagt ein aus Enerhodar geflohener Abgeordneter des Stadtrats. Er möchte namentlich nicht genannt werden, denn er fürchtet, seine Eltern könnten drangsaliert werden, da sie sich noch im besetzten Gebiet befinden.

Pawlo*, ein früherer Mitarbeiter des AKW Saporischschja, erzählt, dass von der örtlichen Schule Nr. 2 und vom Städtischen Krankenhaus aus mehrere Tage lang Bewohner von Enerhodar weggebracht worden seien. Sowohl die Schule als auch das Krankenhaus seien von bewaffneten russischen Soldaten umstellt gewesen. "Die Evakuierung leitet ein Kollaborateur, Schwiegersohn eines ehemaligen Direktors des Kraftwerks. Noch werden nur diejenigen weggebracht, die weg wollen oder sich vor der Rückkehr der ukrainischen Behörden fürchten. Wir haben aber Angst, dass man uns später mit Gewalt noch deportieren wird."

Ein beschädigter Wohnblock als Folge von Kampfhandlungen in Enerhodar in der Ukraine
Krieg neben dem Atomkraftwerk: zerschossenes Wohnhaus in EnerhodarBild: picture alliance/dpa/TASS

Eine andere Bewohnerin von Enerhodar ist Ljudmyla*. Ihr ist der Grund für die Evakuierung unklar, denn jüngst habe es gar keine Kampfhandlungen gegeben, erklärt sie. Doch seit dem 6. Mai seien alle Kindergärten und Schulen geschlossen. "Uns wurde gesagt, Kinder und ihre Eltern, Ältere und Kranke werde man auf eine Evakuierung vorbereiten. Es gibt auch eine Hotline, wo man sich für einen Transport anmelden kann."

Doch dabei gibt es laut Ljudmyla Probleme. Weil die Busse Pannen hatten, waren die Menschen sehr lange unterwegs, wie sie erzählt. Manche seien nicht, wie versprochen, ins besetzte Berdjansk, sondern nach Russland gebracht worden. Andere wurden Ljudmyla zufolge in unbewohnbaren oder abgelegenen Gebäuden untergebracht, so dass sie nur mit Schwierigkeiten verpflegt werden konnten.

Wie die Bewohnerin berichtet, wurden auch alle Mitarbeiter der Besatzungsbehörden in Enerhodar nach Hause geschickt. Dadurch seien vor allem Kollaborateure und Menschen mit russischen Pässen in Panik geraten. "Einige unserer Bekannten, die russische Pässe haben, sind sofort mit ihrem Auto Richtung Krim gefahren. Aber es gab einen Stau und sie schafften es nicht bis auf die Halbinsel, sie blieben vorerst in Henitschesk am Asowschen Meer."

Was passiert mit den AKW-Arbeitern aus Saporischschja?

Bürger von Enerhodar berichten der DW, dass nach über einem Jahr russischer Besatzung von den einst mehr als 53.000 Einwohnern der Stadt nur noch ein Drittel übriggeblieben ist. Die meisten seien jetzige oder ehemalige AKW-Arbeiter mit ihren Familien - und die würden nicht aus der Stadt gelassen. "Selbst wer sich weigert, für die Besatzer zu arbeiten und keinen Zutritt zum AKW mehr hat, kann nicht weg und wird an den Kontrollpunkten zurückgeschickt", erzählt Pawlo.

Vom ukrainischen Kraftwerksbetreiber Enerhoatom heißt es hingegen, die Besatzer würden die Evakuierung von etwa 3100 Menschen aus Enerhodar vorbereiten - in erster Linie von 2700 AKW-Mitarbeitern und deren Familien, die einen Vertrag mit den Russen unterzeichnet hätten. "Das verschärft den ohnehin schon äußerst kritischen Mangel an Personal, das für einen sicheren Betrieb des Kraftwerks nötig ist", warnt Enerhoatom.

Blick aus der Vogelperspektive auf das AKW Saporischschja, Europas größte Atomanlage
Europas größte Atomanlage: Das AKW Saporischschja in EnerhodarBild: Konstantin Mihalchevskiy/SNA/IMAGO

Die russische Seite bestreitet die ukrainischen Berichte. Der Berater des russischen Konzerns Rosenergoatom, Renat Kartschaa, erklärte, das Team des AKW Saporischschja arbeite trotz der angekündigten Evakuierung wie gewohnt weiter. "Alle weiteren Pläne und Maßnahmen werden den realen Veränderungen der Situation angepasst", so Kartschaa laut der russischen Nachrichtenagentur Interfax.

Angespannte Lage im russisch besetzten Enerhodar

Seit die Evakuierung angekündigt worden ist, haben in der Stadt viele Geschäfte und Räumlichkeiten ukrainischer Banken geschlossen, die von den Russen besetzt wurden und in denen dann russische Banken tätig waren. "Am 6. und 7. Mai packte die russische Promswjasbank ihre Sachen und machte sich davon", sagt Pawlo.

Der Stadtverordnete, der namentlich nicht genannt werden möchte, berichtet, dass inzwischen das gesamte medizinische Gerät aus dem Städtischen Krankenhaus abtransportiert worden sei. "Zuerst brachten sie ihre eigenen Verwundeten weg, dann die Dialyse-Patienten. Sie wurden nach Jewpatorija auf die Krim geschickt, für zwei Wochen, wie man ihnen sagte. Aber es ist doch klar, dass es hier um den Raub von Geräten geht. Auch den Bewohnern einer Datschen-Siedlung wurde bis Ende der Woche Zeit gegeben, ihre Sachen zu packen. Seit Montag dürfen die Menschen nicht mehr dorthin. Aus den Datschen wird jetzt alles geraubt und mitgenommen."

Der rechtmäßig gewählte Bürgermeister von Enerhodar, Dmytro Orlow, hält sich nicht in der Stadt auf. Gegenüber Radio Liberty berichtete er, dass die russischen Besatzer auch Computer und Unterlagen aus den Ämtern wegschafften. Außerdem gebe es in der Stadt bereits einen Mangel an bestimmten Lebensmitteln. Auch Tankstellen und Geldautomaten seien leer.

Bewohner der Stadt bestätigen die Verknappung von Lebensmitteln und Hygieneartikeln nur zum Teil. "Was Lebensmittel angeht, gibt es keinen großen Andrang, denn wir haben für alle Fälle ein Jahr lang auf Vorrat gekauft - Müsli, Konserven, Wasser", sagt Pawlo. Er und andere Anwohner hoffen, dass die ukrainische Armee ihre Stadt so schnell wie möglich von der russischen Besatzung befreit.

* Name von der Redaktion geändert

Adaption aus dem Ukrainischen: Markian Ostaptschuk