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PolitikEuropa

Cherson: Das strategisch wichtige Tor zur Krim

Roman Goncharenko
10. November 2022

Das südukrainische Gebiet Cherson wurde in den ersten Tagen des russischen Überfalls besetzt. Nun meldet Russland einen Rückzug vom rechten Ufer des Flusses Dnipro. Die Region ist wegen ihrer Lage strategisch wichtig.

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Ukrainische Soldaten feuern am 9. November mit einem Geschütz über eine Frontlinie in der Region Cherson
Ukrainische Soldaten feuern am 9. November mit einem Geschütz über eine Frontlinie in der Region Cherson Bild: REUTERS

Ganz unerwartet kam das nicht, als der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu den Abzug seiner Armee aus Cherson verkündete - der wichtigsten von russischen Truppen besetzten Stadt im Süden der Ukraine. Ende Oktober hatte der neue russische Befehlshaber in der Ukraine, General Sergej Surowikin, bereits von "schwierigen Entscheidungen" gesprochen.

Vor allem die ukrainischen Angriffe auf die wichtige Antoniwskyj-Brücke haben die Versorgung der russischen Truppen auf dem rechten Ufer des größten ukrainischen Flusses Dnipro massiv erschwert. Im Rahmen der Gegenoffensive, die Ende August begann, rücken die ukrainischen Soldaten immer näher an Cherson heran

Süßwasser für die Krim  

Das gesamte Gebiet Cherson war von Russland in den ersten Tagen des Überfalls vollständig erobert worden. Der militärische Widerstand war gering. Die Gebietshauptstadt Cherson, in der zuvor rund 280.000 Menschen lebten, wurde Anfang März besetzt. Amateuraufnahmen zeigten, wie dort ukrainische Zivilisten gegen russische Truppen protestiert hatten. Die meisten Bewohner sind russischsprachig. Keine andere Region der Ukraine wurde so schnell besetzt, wie das passieren konnte, ist bis heute unklar. Es ist eine der schmerzhaften Fragen für die Regierung in Kiew. 

Mehrere Leute mit ukrainischen blau-gelben Fahnen bei einer Demonstration
Ukrainer protestieren in Cherson gegen russische die Besatzung (5. März 2022)Bild: Yanis Obarchuk

Mit rund 28.500 Quadratkilometern ist das Gebiet Cherson fast so groß wie Belgien. Die Landschaft ist von Steppen geprägt, von großen weiten Flächen soweit das Auge reicht. Strategisch ist das die wohl wichtigste Region der Südukraine, denn sie verfügt über Zugang zu zwei Meeren: dem Asowschen Meer im Osten und dem Schwarzen Meer im Westen. Noch wichtiger: über das Gebiet Cherson verläuft die einzige Landverbindung zur Krim. Es ist das Tor zu der 2014 von Russland annektierten Halbinsel. Und dieses Tor blieb beim russischen Überfall weitgehend offen. Es wurden keine Brücken gesprengt, die den Aufmarsch hätten aufhalten können. Große russische Verbände konnten von der Krim aus Hunderte Kilometer nach Norden vorstoßen.

Russlands wohl wichtigstes Ziel dabei war der Nordkrimkanal, der bei Nowa Kachowka, rund 80 Kilometer östlich von Cherson, beginnt und in Kertsch auf der Krim endet. Die Halbinsel leidet an Wassermangel und wurde seit Sowjetzeiten über diesen Kanal mit Süßwasser aus dem Dnipro versorgt. Nach der Annexion stoppte die Ukraine den Wasserfluss, was zu Problemen für die wasserintensive Landwirtschaft auf der Krim führte. Russische Truppen sprengten den 2014 gebauten Damm und ließen das Wasser wieder fließen.

Vertrocknete Erde vor einem stark abgesunkenen Stausee
Wassermangel auf der Krim bei Simferopol, 2020Bild: Alexei Pavlishak/TASS/picture alliance

Gleichzeitig konnte die russische Armee mit der Besetzung von Cherson und anderen Städten in der unteren Strömung des Dnipro den für die Ukraine wichtigen Wasserweg zum Schwarzen Meer sperren. 

Cherson - Hauptstadt der Wassermelonen

Cherson ist vor allem für seinen Schiffbau bekannt. Die Stadt wurde Ende des 18. Jahrhunderts im damaligen Russischen Reich in der Mündung des Dnipro gegründet und nach der antiken griechischen Krim-Siedlung Chersones benannt. Cherson verfügt über den ältesten Seehafen an der ukrainischen Schwarzmeerküste. Hier wurden erste Kriegsschiffe für die russische Schwarzmeerflotte gebaut. Seit der Sowjetzeit spezialisiert sich Cherson auf zivile Frachtschiffe, darunter Tanker. Im Februar 2022, wenige Tage vor dem russischen Einmarsch, verkündete die Werft die Unterzeichnung eines Vertrags über den Bau von vier Frachtern für die Niederlande. 

Wenn Ukrainer an Cherson denken, fallen ihnen nicht zuerst Schiffe, sondern Wassermelonen und Tomaten ein. Vor allem die Wassermelonen aus Cherson sind legendär. Jedes Jahr ab August sind ukrainische Geschäfte voll von diesen süßen Kürbisgewächsen. Nur nicht in diesem Jahr. In sozialen Netzwerken sind Bilder ukrainischer Soldaten mit einer Wassermelone in der Hand zu einem Symbol der Rückeroberung geworden. 

Die Region Cherson ist berühmt für ihren Obst- und Gemüseanbau. Die gesamte landwirtschaftlich genutzte Fläche ist mit rund zwei Millionen Hektar die größte in der Ukraine. Das ist fast doppelt so viel wie in den Niederlanden. Kein Wunder, dass in der Stadt Kachowka 1993 der erste ukrainische Ketchup-Hersteller gegründet wurde: die Firma "Tschumak". Sie gilt als eine der Erfolgsgeschichten in der unabhängigen Ukraine. Auf seiner Webseite verweist das von zwei Schweden gegründete Unternehmen stolz darauf, das größte Gurkenfeld in Europa zu besitzen. Die Stadt Kachowka wurde am ersten Kriegstag von russischen Truppen besetzt. "Tschumak", aktuell die Nummer zwei auf dem ukrainischen Markt, stellte die Produktion ein und verlegte die Zentrale nach Kiew.

Ukraine reagiert zurückhaltend

Als Reaktion auf den angekündigten Abzug der russischen Truppen aus Cherson rief der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj zur Zurückhaltung auf. "Der Feind macht uns keine Geschenke, er macht keine 'Gesten des guten Willens'. Wir müssen immer noch kämpfen", betonte er in seiner Ansprache am Abend des 9. November.

Infografik Karte Staudamm Kachowa in der Ukraine DE

Selenskyj wandte sich auch an die russische Führung: "Jeder Versuch, das Kachowka-Wasserkraftwerk zu sprengen, unser Territorium zu fluten und das Kernkraftwerk Saporischschja ohne Wasser dastehen zu lassen, wird bedeuten, dass Sie der ganzen Welt den Krieg erklären. Überlegen Sie, was dann mit Ihnen passieren wird." Mychajlo Podoljak, Berater im ukrainischen Präsidialamt, erklärte, die Ukraine sehe keine Anzeichen dafür, dass Russland Cherson kampflos aufgebe. Ihm zufolge hält sich ein erheblicher Teil der russischen Truppen weiterhin in der Stadt auf. Zusätzliche Reserven würden in der Region zusammengezogen.

Dieser Beitrag wurde am 09.09.2022 veröffentlicht und am 10.11.2022 aktualisiert.