Corona-Krise: "Keiner soll alleine sterben"
1. November 2020"Wir durften nicht im Rettungswagen mitfahren, die Klinik nicht betreten. Wir hatten keine Möglichkeit, mit den Ärzten zu sprechen. Das fand ich ganz grausam." Silke Kleibömer erinnert sich genau an den Tag - eine Woche vor dem Tod ihres Vaters auf einer Intensivstation in Nordrhein-Westfalen. An seinem 73. Geburtstag, dem 28. April, ging es ihm aufgrund seiner Lungenerkrankung so schlecht, dass er sofort ins Krankenhaus musste. Er war seit Jahren auf Sauerstoff angewiesen.
In der ersten Phase der Corona-Krise verhängten Krankenhäuser wie Pflegeheime Besuchsverbote und Beschränkungen. Nach Lockerungen im Sommer wurden sie mit steigenden Infektionszahlen teilweise wieder eingeführt. Bundesregierung und Bundesländer haben jetzt beschlossen: Risikogruppen in Krankenhäusern, Pflegeheimen und Behinderteneinrichtungen werden geschützt, das soll aber nicht "zu einer vollständigen sozialen Isolation der Betroffenen führen". Schnelltests sollen helfen.
Besuchsbeschränkungen treffen nicht nur COVID-19-Infizierte, sondern auch Patienten wie Heinz-Jürgen Kleibömer. Er hatte "wahnsinnige Angst", sagt seine Tochter der DW am Telefon: "Er hat gespürt, dass das sein letzter Weg wird." Im Krankenhaus wurde eine Lungenentzündung festgestellt. Die Kommunikation mit ihrem Vater übers Handy war kaum möglich, erzählt Silke Kleibömer: "Wir hatten einmal täglich Gespräche, 10 bis 20 Sekunden lang." Dann bekam er keine Luft mehr. "Jeder, der schon mal Atemnot erleben musste, weiß, dass das Todesängste sind."
"Er wollte noch nicht gehen"
Als ihre Mutter am Telefon eine Ärztin fragte, worauf die Familie sich einstellen müsse, habe die sie "massiv angepampt": Sie könne nicht mit sämtlichen Angehörigen sprechen. Der Vater kam auf die Intensivstation - die Familie wurde nicht informiert. Silke Kleibömer, selbst Leiterin in einem ambulanten Pflegedienst, hat dafür kein Verständnis: "Dann muss ich delegieren. Es handelt sich um einen Anruf."
Sie ließ sich zum diensthabenden Arzt auf der Intensivstation durchstellen, wurde laut: "Wir kommen jetzt." Sie fuhren hin: "Meine Mutter und ich konnten zu meinem Vater. Er war schwer zu verstehen, aber klar bei Sinnen ..." - Silke Kleibömer stockt, weint leise, entschuldigt sich. "Er sagte, dass er uns lieb hat." Sie schluckt. "Dann war er noch so stark, schaute mich an und sagte, ich soll nicht weinen. Mein Vater hat so gekämpft. Er wollte noch nicht gehen."
"Papa hat gewartet"
Auf der Intensivstation war Besuch möglich, aber innerhalb von 24 Stunden nur eine Person für eine Stunde. Doch das Personal kam Familie Kleibömer entgegen - auch am 5. Mai, als die Überwachungsgeräte am Bett ihres Vaters Alarm schlugen. Seine Enkelin rief aus dem Krankenhaus an: "Ihr müsst kommen! Beeilt euch!" Silke Kleibömer holte ihre Mutter ab. Ehefrau, Töchter, Enkel und Enkelin - zu fünft saßen sie am Sterbebett: "Papa hat gewartet. Wir konnten ihn alle begleiten. Das verdanken wir den Menschen auf der Intensivstation. Wir hätten es nicht gedurft."
Der Arzt habe gesagt, über zusätzliche Besucher entscheide "jeder Kollege für sich". Am nächsten Tag hätte ein anderer vielleicht nein gesagt. Familie Kleibömer hatte Glück: "Wir haben ihm die Hand gehalten." Ihr Vater schlief friedlich und schnell ein, sagt Silke Kleibömer: "Es war eine Erlösung in seinem Gesicht zu erkennen."
"Keiner soll allein sein müssen"
Wie viele der mehr als 10.000 COVID-19-Toten in Deutschland in Kliniken oder in Pflegeheimen gestorben sind, ist unbekannt. Das Robert-Koch-Institut (RKI) ordnet gut 4600 Sterbefälle diesen und ähnlichen Einrichtungen zu, aber bei 45 Prozent der Meldungen fehlen Angaben zur Unterbringung. Fest steht: Die Zahl der Toten steigt und es gibt wieder mehr Infizierte in Pflegeheimen.
"Keiner soll alleine sterben. Keiner soll, wenn es ihm schlecht geht, allein sein müssen", sagt Pflegeheim-Direktor Raphael Maria Kloeppel: "Der menschliche Aspekt muss gewahrt bleiben. Corona hin oder her, die Einrichtung hat Möglichkeiten, sich zu schützen." Kloeppel leitet das Caritashaus St. Elisabeth in Rheinland-Pfalz mit 164 Pflegeplätzen. Im Frühjahr und im September gab es Corona-Infektionen bei Pflegekräften und Bewohnern. Sie wurden auf einer Isolierstation versorgt, die Virus-Ausbreitung gestoppt. Die Mitarbeiter erholten sich, ebenso die meisten Bewohner. Doch fünf der Infizierten starben, meist mit Vorerkrankungen.
"Meine Mutter ist in Tränen ausgebrochen"
Detlev Jacobs blickt auf Fotos seiner verstorbenen Mutter Renate Jacobs: "Meine Mutter war eine sehr lebenslustige Frau, die gerne gelacht hat, tanzen ging und fröhlich auf die Mitmenschen zugegangen ist". Die Mutter von vier Kindern war Floristin, hatte früher ein eigenes Geschäft. Wegen ihrer Alzheimer-Demenz lebte sie seit drei Jahren im Caritashaus in Koblenz.
Die staatlich angeordneten Besuchsverbote im März waren für Familie Jacobs "eine ganz schlimme Zeit", erinnert sich der Sohn. Der direkte Kontakt brach ab, Renate Jacobs konnte sich wegen ihrer Demenz nicht am Telefon verständigen. Nach über zwei Monaten konnte Detlev Jacobs wieder zu ihr, mit Hygieneregeln, Handschuhen, Haube, Maske: "Meine Mutter ist in Tränen ausgebrochen. Mir ging es auch so. Da haben wir erst mal eine Runde geheult."
Seine Mutter, sagt Jacobs, "fühlte sich alleingelassen, weil sie das nicht verstehen konnte". Ihr Zustand hatte sich verschlechtert, sie konnte noch weniger sprechen, sich weniger selbst bewegen. Der Sommer brachte Entspannung, gemeinsame Stunden im Garten: sich ohne Maske gegenübersitzen, "eine Kleinigkeit essen und trinken", fast wieder Alltag.
"Ich kam hin, da war sie tot"
Mitte September wieder ein Coronavirus-Ausbruch: Renate Jacobs wurde positiv getestet, kam mit anderen Infizierten auf die Isolierstation. Der Hausarzt rief an, sprach von einer kritischen, aber stabilen Verfassung. Stabil - das habe ihn beruhigt, sagt Detlev Jacobs. Dass er seine Mutter auf der Isolierstation besuchen konnte, war ihm erst nicht klar. Als er das wusste, wollte er am 22. September gleich zu ihr: "Ich kam hin, da war sie tot. Das war sehr traurig." Er hätte gerne ihre Hand gehalten und mit ihr gesprochen, bevor sie starb: "Dass ich sie lieb habe, ihr alles Gute wünsche - einen guten Tod, dass es ihr gut gehen soll."
Für Detlev Jacobs Bruder war der Tod der Mutter besonders bitter. Er lebt in einer Behinderten-Wohngemeinschaft, zählt selbst zur Risikogruppe und durfte seine WG lange nicht verlassen. Seine Mutter hatte er seit Februar nicht mehr gesehen. Die Nachricht von ihrem Tod hat ihn "total geschockt".
Eine staatliche Trauerfeier?
Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier regte eine Gedenkfeier für die Toten und Hinterbliebenen an. "Der Corona-Tod ist ein einsamer Tod", sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Oft fehle der Abschied von geliebten Menschen, viele Angehörige hätten ihm von ihrer Seelenqual berichtet. Einen Trauerakt soll es wohl nicht vor dem Frühjahr geben. Im Bundespräsidialamt heißt es, Steinmeier denke dabei nicht nur an die Corona-Toten.
Detlev Jacobs hält das für eine gute Idee: In Statistiken haben die Toten kein Gesicht. Mit einer offiziellen Trauerfeier könne man auch der Bevölkerung bewusst machen, dass hinter den Zahlen menschliche Schicksale stehen. So sieht es auch Silke Kleibömer, die darum kämpfte, ihren Vater zu begleiten: "Das hat etwas mit Anerkennung zu tun." Die Pflegedienstleiterin denkt, dass viele Tod und Trauer verdrängen: "Wovor ich Angst habe, das schiebe ich vor mir her. Ich glaube, das ist ein großes Problem in der Gesellschaft."
Trauer zulassen, Kontakte stärken
"Die Trauer ist eine gute Freundin", davon ist Familien-Trauerbegleiterin und Autorin Mechthild Schroeter-Rupieper überzeugt: "Ich brauche die Trauer, damit es mir auf Dauer wieder besser geht." Wer sie unterdrücke, stehe umso mehr unter Druck, werde hart. Eine offizielle Trauerfeier zeige: "Ja, es ist Angst da, Tod, Krankheit. Und wir haben ein Ritual, das hilfreich ist." Trauer gebe Raum für Zuwendung und Wertschätzung. Viele Menschen sagten nach einer Beerdigung: "Das hat gut getan."
Jetzt in der Corona-Krise sollten alle Chancen genutzt werden, den Kontakt zu Kranken und Sterbenden zu halten: mit Video-Chats oder Audio-Nachrichten, auch Menschen im Koma könne man noch Kopfhörer aufsetzen lassen und ihnen liebe Worte schicken. Im Caritashaus in Koblenz wurden Tablets angeschafft, damit Angehörige besser in Kontakt bleiben können.
Auch Silke Kleibömer wünscht sich, dass digitale Möglichkeiten besser genutzt werden, ein Bildkontakt mit ihrem Vater hätte geholfen und Ärzte, die sich nicht über Anrufe aufregten, sondern sagten: "Ich verstehe Ihre Angst. Ich habe im Moment nicht die Zeit zu telefonieren, aber ich melde mich nochmal." Am Schluss bei ihrem Vater gewesen zu sein, bedeute der Familie sehr viel: "Ich weiß, dass mein Vater solche Angst hatte vorm Sterben. Dass er in diesen Minuten nicht alleine sein musste, gibt uns Kraft weiterzuleben."