Brasilien: Das Trauma der Hinterbliebenen
2. August 2020Über Jahrtausende haben die Menschen Abschieds- und Trauerrituale entwickelt. Doch während der COVID-19-Pandemie können viele von ihnen nicht begangen werden. Diese Erfahrungen machen derzeit Millionen von Hinterbliebenen weltweit. In Brasilien, wo sich nach offiziellen Zahlen bereits mehr als ein Prozent der Bevölkerung infiziert hat, hat das Gesundheitsministerium schon im März eine neue Bestattungsrichtlinie herausgegeben, die unter anderem die traditionelle Totenwache untersagt.
"Normalerweise wird ein Verstorbener in Brasilien einen Tag lang im offenen Sarg aufgebahrt", erklärt die Anthropologin Andréia Vicente von der Staatlichen Universität des Westlichen Paraná. "Während der Totenwache ist es üblich, dass sich Angehörigen und Freunde am Sarg versammeln und ihr Leid über den Verlust teilen: sich Geschichten erzählen, aber auch mit den Verstorbenen sprechen, sie berühren …", erklärt Vicente. Nach 24 Stunden muss eine Leiche in Brasilien bestattet werden, wenn nicht etwa forensische Gründe dagegensprechen.
Den Tod "begreifen"
Ähnliche Riten gibt es in fast allen Ländern. Auch in Deutschland werden Tote oft sichtbar aufgebahrt. Größere Versammlungen finden eher bei einer gesonderten Trauerfeier - meist bei geschlossenem Sarg - unmittelbar vor und nach dem Begräbnis statt. Dieses kann aber durchaus erst zwei Wochen nach dem Tod stattfinden.
Der zeitliche Ablauf dieser Elemente sei nebensächlich, sagt die Psychologin und Trauerbegleiterin Elaine Alves aus São Paulo. Wichtig sei, dass sie stattfinden: "Die Leiche sehen, feststellen, dass die geliebte Person nicht mehr reagiert - weder auf Worte, noch auf Berührungen - das alles, hilft, den Tod wirklich wahrzunehmen. Und das erleichtert den Trauerprozess ungemein."
Doch diese Riten sind in Brasilien derzeit verboten - insbesondere, wenn die Toten mit COVID-19 infiziert waren. Aus dem Sterbezimmer im Krankenhaus werden sie direkt in einem Plastiksack in den Sarg gelegt. Die Angehörigen bekommen dann nur noch den versiegelten Sarg zu Gesicht. Wenn überhaupt.
Entwürdigender Pragmatismus
Ob die Angehörigen überhaupt Gelegenheit erhalten, sich dem Sarg vor der Beisetzung zu nähern, hänge davon ab, wie die Friedhofsleitung die Richtlinien auslegt, sagt Anthropologin Vicente, die für ihre Studien viele Interviews zu dem Thema führt: "Manche Hinterbliebene berichten von sehr rücksichtsvollen Totengräbern. Andere hatten nicht einmal Zeit für ein Gebet, bevor die ersten Schaufeln Erde auf dem Sarg lagen. Eine Frau empfand das als Entwürdigung ihres verstorbenen Mannes."
Angesichts der ungewöhnlich großen Zahl von Leichen, die in Brasilien täglich zu bestatten sind, sehen sich Kommunen teils zu bitteren Maßnahmen gezwungen: In Manaus sollten Särge in Gräbern gestapelt werden. Diese Überlegung jedoch wurde nach Protesten alsbald verworfen, und die Toten wurden in Massengräbern nebeneinander beigesetzt. In São Paulo werden Leichen auch nachts begraben, wenn die Zahl der Toten an einem Tag 400 übersteigt. Mit offiziell annähernd 90.000 Corona-Toten hat Brasilien eine der höchsten Opferzahlen der Welt zu beklagen.
"An den Tod gewöhnt man sich nicht"
Der unerwartete Verlust eines geliebten Menschen ereilt Brasilianer auch ohne Pandemie häufiger als Europäer. Allein 50.000 Menschen wurden in den letzten zehn Jahren pro Jahr ermordet- das sind fast 240 Tötungsdelikte pro einer Million Einwohner. In der Europäischen Union sind es weniger als zehn. Die Zahl der Verkehrstoten ist in Brasilien gemessen an der Bevölkerung viermal so hoch wie in der EU. Und wegen der teils schlechten Gesundheitsversorgung sterben mehr Menschen an heilbaren Krankheiten.
Betroffen davon sind insbesondere die ärmeren Bevölkerungsteile, in denen auch COVID-19 überproportional viele Todesopfer fordert. Dass sich dadurch eine gewisse Routine im Umgang mit dem Tod einstelle, glaubt Psychologin Alves indes nicht: "An den Tod gewöhnt man sich nicht. Jeder Tod und jede Trauer ist individuell - insbesondere bei engen Verwandten oder Freunden." Auch die Anthropologin Vicente sieht dafür keine Anzeichen: "Der Tod eines anderen Menschen ist ja unter anderem deshalb so schwer zu ertragen, weil er uns auch die eigene Sterblichkeit vor Augen führt."
Neue Formen der Trauer
Worin Brasilianer allerdings geübt sind, ist es, sich an Veränderungen und Widrigkeiten anzupassen. Im Fall der beschnittenen Trauerrituale kommt ihnen ihre Affinität zu neuen Medien zugute: Viele nutzen Skype, WhatsApp und Co., um ihre isolierten, todkranken Verwandten zu begleiten. Und um sich von ihnen zu verabschieden: "Diese vorgezogene Trauer vor dem Tod erleichtert die eigentliche Trauerarbeit danach deutlich", sagt Elaine Alves.
Dennoch rechnet die Psychologen mit steigenden Fällen erschwerter und traumatischer Trauer, die nicht selten zu physiologischen Erkrankungen wie Diabetes, Herzleiden und anderen Krankheiten führen: "Krankheiten für die eine Disposition besteht, brechen dann aus."
Die Gefahr steige insbesondere, weil viele Betroffene wegen der Pandemie selbst in soziale Isolation geraten. Dabei seien die sozialen Kontakte eine wichtige Säule der Trauerarbeit. Auch hierbei, rät die Trauerbegleiterin, könne das Internet Hilfen bieten: Statt in der Kirche könne man die traditionellen Messen sieben und 30 Tage nach dem Tod in digitalen Netzwerken feiern.
Einen weiteren Trost, sagt Andréia Vicente, könnte das kollektive Gedenken im Internet bieten: Auf eigens eingerichteten Gedenkseiten oder in Facebookgruppen, können Hinterbliebene die Geschichten ihrer Verstorbenen auch einer unbekannten Öffentlichkeit erzählen. "Der COVID-19-Toten als Opfer eines kollektiven Traumas zu gedenken", sagt die Anthropologin, "kann ein Gefühl der Identifikation mit anderen Trauernden erzeugen und helfen, den eigenen Schmerz besser zu bewältigen."