Altenheime und die Angst vor dem Lockdown
22. Oktober 2020Noch stehen die Türen - zur Überraschung der Besucher - offen im Evangelischen Pflegezentrum Lore-Malsch in München. "Wir bekommen gerade Anrufe, jede Menge Anrufe", sagt Heimleiter Jan Steinbach. Die Menschen fragten nach, ob sie ihre Liebsten noch besuchen dürften, obwohl bundesweit die Zahl der Corona-Fälle ansteige.
Die Frage der Besucherregulierung stellt ein echtes Dilemma für Pflegeheime dar. Lassen die Einrichtungen Besucher zu, riskieren sie, die Bewohner, die wegen ihres Alters ohnehin ein erhöhtes Risiko haben, dem Coronavirus auszusetzen. Wird aber Besuchern der Zutritt verwehrt, können die Altenheim-Bewohner ihre Angehörigen nicht sehen, deren Gesundheit wegen der permanenten Isolation Schaden nehmen könnte. Es gibt kein richtig oder falsch in dieser Frage. Während der ersten Phase der Pandemie im März und April beschlossen die meisten Landesregierungen in Deutschland, Besuche entweder komplett einzustellen oder zumindest drastisch einzuschränken.
"Bei der ersten Welle war es so, dass die Einrichtungen zwar in aller Regel ein Hygienekonzept hatten. Das war aber eher auf eine Grippewelle ausgerichtet, nicht auf eine Pandemie, wie wir sie jetzt haben, auch was die Schutzausrüstung angeht ", sagt Bernd Tews, Geschäftsführer beim Bundesverband privater Anbieter sozialer Dienste (bpa), der DW. "Das hatte zur Folge, dass innerhalb kürzester Zeit die Situation in allen Gesundheitseinrichtungen schwierig wurde; wir hatten keine Masken, es gab keine Desinfektionsmittel und keine Handschuhe. Alles, was an Schutzausrüstung erforderlich gewesen wäre, gab es nicht und war auch auf dem Weltmarkt nicht zu bekommen."
Anfang des Jahres kritisierte der bpa öffentlich die mangelnde Ausrüstung, aber die Situation habe sich verbessert. Die Einrichtungen seien nun wesentlich besser ausgestattet für eine zweite Pandemie-Welle, sagt Tews. Dazu käme noch das Versprechen baldiger, schneller, 20-minütiger Antigentests, um die Besucher zu testen. Das mache ihn zuversichtlich, dass Einrichtungen weiterhin Besucher erlauben könnten. Es gäbe aber zwei Ausnahmen: ein besonders gravierender regionaler Ausbruch und Coronafälle in den Pflegeeinrichtungen selbst.
Ein langer Winter steht bevor
In München musste auch Heimleiter Jan Steinbach das Lore-Malsch Pflegezentrum verändern, als sie gezwungen waren, die Besuche drastisch zu beschränken. Neben der Möglichkeit, per Video anzurufen, hat das Heim nun einen sicheren Besucherraum, in dem sich Besucher und Bewohner getrennt durch eine Plexiglas-Scheibe begegnen können. Die Besucher desinfizieren am Eingang ihre Hände, außerdem wird Fieber gemessen. Im ganzen Gebäude müssen Masken getragen werden, inklusive in den privaten Räumen - auch wenn das für Steinbach und sein Team schwer zu kontrollieren ist.
Steinbach bietet seinem Personal zusätzlich an, sich jeden Montag kostenlos auf das Coronavirus zu testen, um seine Mitarbeiter zu beruhigen, aber auch ihn selbst, vor allem, wenn er Dienstpläne erstellen muss. "Jetzt wo, der Winter beginnt, sorgt sich verständlicherweise jeder, der einen Schnupfen hat, dass es Corona sein könnte", sagt Steinbach. "Es ist gut möglich, dass es zunehmend schwierig wird, die Abläufe hier mit unserem gewohnten Personal aufrechtzuerhalten. Noch geht es, aber es ist ein langer Weg, bis der Winter kommenden März vorbei sein wird."
Nur zwei Besucher pro Tag
In der rheinland-pfälzischen Stadt Koblenz erlaubt das Caritas-Altenheim St. Elisabeth ihren Bewohnern zwei Besucher am Tag, nicht mehr. Die Besucher können auch gemeinsam kommen und so lange bleiben, wie sie möchten. Zwei Besucher am Tag - das mag wenig klingen, aber der Direktor des Hauses, Raphael Kloeppel, sagt, mit 164 Bewohnern könne es schnell eng werden.
Die Einschränkungen im März und April brachten für die Bewohner erhebliche Veränderungen mit sich. Die meiste Zeit des Tages verbrachten sie in ihren Zimmern, nur das Personal besuchte sie. Die gemeinsamen Aktivitäten der Bewohner wurden eingeschränkt. Gemeinsame Mahlzeiten gab es nur für jene, die nicht allein in ihren Zimmern essen können.
Auch wenn Kloeppel darauf verweist, wie widerstandsfähig einige Bewohner sind - sie scherzten darüber, dass sie den Krieg überlebt hätten und somit auch einige Wochen in ihren Schlafzimmern verkraften würden - habe er gemerkt, wie die zwei Monate an den Bewohnern gezehrt hätten. "Was mir aufgefallen ist in der Zeit des Lockdowns, der ja doch recht lange war, dass die Bewohner zum Teil körperlich nachgelassen haben. Es fehlte an Ansprachen und Anreizen. Dieses eher passive Dasein hat bei vielen den Alterungsprozess beschleunigt", sagt Kloeppel.
"Alles andere wäre unethisch"
Sowohl im katholischen Caritashaus in Koblenz als auch im evangelischen Pflegezentrum in München, sind sich die Leiter Kloeppel und Steinbach einig: Egal, welche Besucherregelungen ergriffen werden müssten, eine Ausnahme müsse immer bestehen bleiben. "Es ärgert mich, wenn ich in der Presse lese, dass viele Menschen einsam in den Pflegeheimen sterben, ohne ihre Angehörigen noch einmal zu sehen", sagt Steinbach. "Bei uns war das nicht der Fall. In Palliativphasen durften die Menschen immer kommen, sie wurden immer reingelassen. Alles andere wäre aus meiner Sicht unethisch."
In Koblenz wurden Menschen mit COVID-19 von den anderen Heimbewohnern isoliert, auch damit sie Besucher empfangen konnten, wenn es ihnen sehr schlecht ging. Die Angehörigen mussten eine Ganzkörper-Schutzausrüstung tragen. "Kopfhaube, Kittel, Schuhe, Handschuhe, und Mundschutz mussten sie tragen und durften dann noch einmal zu ihren Angehörigen", sagt Kloeppel. Eine Frau sei so verstorben, aber immerhin habe sie ihre Kinder bei sich gehabt. "So muss es sein. Coronavirus hin oder her, die menschliche Seite muss respektiert werden."