Tigray und Staudamm: Äthiopien am Wendepunkt?
9. Juli 2021"Betonte", "verurteilte", "drängte". Schon die Verben, mit denen das US-Außenministerium die Öffentlichkeit über das Telefonat zwischen Chefdiplomat Antony Blinken und Äthiopiens Ministerpräsident Abiy Ahmed an diesem Dienstag unterrichtete, machen klar, wie groß die Probleme derzeit wahrgenommen werden. In Tigray ist die Lage für die Zivilbevölkerung so ernst wie vielleicht nie zuvor seit Beginn der Kämpfe im November. Blinken betonte, wie wichtig ein sofortiger und unbegrenzter beidseitiger Waffenstillstand wäre. Er verurteilte die Zerstörung von Brücken und andere Hindernisse für humanitäre Helfer und drängte auf eine Reihe von Schritten, die der UN-Sicherheitsrat zuvor beschrieben hatte.
Für eine Regierung ist es nicht gerade rühmlich, wenn sich der Weltsicherheitsrat mit ihren Aktionen beschäftigt - und Äthiopien steht derzeit mit gleich zwei Krisen dort immer wieder auf der Tagesordnung.
Schotten dicht im Staudamm-Streit
Äthiopien ist im Sicherheitsrat selbst nicht vertreten - die drei afrikanischen Sitze halten derzeit Tunesien, Niger und Kenia. Tunesien hat in dieser Woche einen Vorschlag gemacht, wonach Äthiopien erst einmal die Aufstauung des Nilwassers an seinem GERD-Staudamm unterbrechen sollte. Binnen sechs Monaten sollte es dann mit den beiden Nil-Anrainern Sudan und Ägypten ein verbindliches Abkommen über das weitere Vorgehen schließen. Laut der Nachrichtenagentur Reuters versucht die äthiopische UN-Delegation derzeit nach Kräften, Mehrheiten im Sicherheitsrat gegen den tunesischen Vorstoß zu organisieren.
In dieser Woche hatten sich Ägypten und der Sudan über eine Depesche aus Addis Abeba beschwert: Darin setzte die äthiopische Regierung sie darüber in Kenntnis, dass die zweite Phase des Prozesses begonnen habe, in dem das Becken allmählich mit dem Wasser des Blauen Nils geflutet wird. Der riesige Staudamm soll Äthiopien mit bis zu 6000 Megawatt Strom versorgen - für die flussabwärts gelegenen Anrainer ist das jedoch mehr als eine geopolitische Provokation: Der Nil ist buchstäblich die Lebensader, die die Felder in den beiden Wüstenstaaten bewässert. In Sudans Hauptstadt Khartum vereinigt sich der Blaue mit dem Weißen Nil. Der Südosten des Landes ist somit besonders von Wasser aus Äthiopien abhängig.
Wann kommt Hilfe nach Tigray?
Sudan, der sich seit dem Machtwechsel 2019 selbst noch mitten im politischen Aufbauprozess befindet, ist auch von der zweiten Krise mit äthiopischer Beteiligung unmittelbar betroffen: Bis Mitte Juni wurden in Flüchtlingslagern im Sudan mehr als 46.000 Flüchtlinge aus der äthiopischen Provinz Tigray registriert.
Dort zeichnete sich zuletzt eine Wende ab: Die Tigrayische Volksbefreiungsfront (TPLF) und die Tigray Defense Forces (TDF) vertrieben die äthiopische Armee aus weiten Teilen der Provinz; auch aus der Hauptstadt Mekelle. Addis Abeba erklärte eine einseitige Waffenruhe - die TPLF knüpfte ihren Beitritt zu einem formellen Waffenstillstand an Bedingungen: Zuerst sollen auch die Soldaten aus Eritrea und Milizen aus der Nachbarprovinz Amhara abziehen. "Wir werden weiterkämpfen, bis unsere Vorbedingungen erfüllt werden", sagte TPLF-Sprecher Getachew Reda der DW. Man habe die Regierungstruppen "fertiggemacht". "Sie wollen Beobachter betrügen, indem sie es so darstellen, dass sie die ausgeplünderten Gebiete friedlich verlassen hätten."
Äthiopiens Botschafterin in Berlin, Mulu Solomon Bezuneh, sagte der DW: "Die Regierung hat Tigray um des Friedens willen verlassen. Die Waffenruhe ist dazu da, dass humanitäre Hilfe die Tigray-Region erreicht." In dieser Woche hatte die Regierung Hilfsflügen in das Gebiet zugestimmt. Nach Informationen der Amharischen Redaktion der DW wurden bislang jedoch keine solchen Flüge bei der zivilen Luftfahrtbehörde angemeldet.
Der Zugang nach Tigray ist für humanitäre Hilfsorganisationen extrem erschwert; erst im Juni wurden drei Mitarbeitende von "Ärzte ohne Grenzen" getötet. Zudem sind viele Brücken zerstört, was die Logistik weiter erschwert. Die Vereinten Nationen warnten Anfang Juli, 400.000 Menschen drohe der Hungertod. Äthiopiens Botschafterin wies im DW-Interview den Vorwurf zurück, die Regierung setze Hunger als Waffe ein: "Das ist falsch, denn die Regierung versucht, Hilfsgüter bereitzustellen. Es war die TPLF, die sogar Helfer in einen Hinterhalt gelockt und versucht hat, den Konvoi anzugreifen."
Neue Instabilität rund um Tigray?
Was die Wende in Tigray für die zukünftige Stabilität der Region bedeutet, ist kaum abzusehen. "Auf Seiten der TPLF wächst das Selbstbewusstsein, weil sie sich von Grund auf reorganisieren konnten. Und sie haben starke Vorbedingungen für einen Waffenstillstand gestellt", sagte der unabhängige Analyst und DW-Kolumnist Befekadu Hailu im DW-Interview.
Bis zum Amtsantritt Abiy Ahmeds 2018 waren Tigrayer in Addis Abeba an der Macht - und hatten sich im nördlichen Nachbarland Eritrea, aber auch im Land selbst Feinde gemacht. Gegen diese Feinde könnten sie nun in die Offensive gehen, glaubt Befekadu Hailu: "Sie mobilisieren Truppen, um ihre Nachbarn anzugreifen, amharische Milizen im Süden und Westen oder die eritreische Armee im Norden. Ich glaube, es ist unausweichlich, dass wir militärische Konfrontationen zwischen Tigray und seinen Nachbarn erleben werden." Verschärfend komme hinzu, dass die Nachbarn ihrerseits die humanitäre Hilfe für Tigray zu sabotieren versuchten.
Abiys autokratische Züge
Die Krisen rund um Tigray sowie den GERD-Staudamm haben auch im Ausland den Ruf Abiy Ahmeds als vermeintlicher Friedensbringer für den Vielvölkerstaat ramponiert. Aber auch in Äthiopien selbst sei der anfängliche Optimismus schnell verflogen, sagt Befekadu Hailu: "Viele politische Interessengruppen merkten, dass der Abiy Ahmed ihrer Träume nicht dem Abiy Ahmed der Realität entsprach. Er war an der vorherigen Regierung beteiligt und hatte seine eigenen Ambitionen. Er verkörpert die Mentalität eines Machthabers, wenn nicht eines Autokraten. Als diese Gruppen also bemerkten, dass er sie nicht wirklich vertritt, begannen sie, ihn öffentlich zu kritisieren und auf Konfrontation zu schalten." Einige von ihnen seien inhaftiert worden - "offenbar wegen ihres Widerstands, vor allem, als es Gewalt im Land gab".
Angesichts der beiden großen Konflikte ging fast unter, dass erst am 21. Juni ein neues Parlament gewählt wurde und die Ergebnisse bislang nicht einmal veröffentlicht wurden. Es wird mit einem Erdrutschsieg für die Wohlstandspartei des Ministerpräsidenten gerechnet. "Die Rückeroberung Mekelles durch die TPLF hat der Wahl die Show gestohlen", analysiert Befekadu Hailu. "Diejenigen, die sehr aufgeregt wegen der Wahl waren, haben jetzt große Angst vor der Rückkehr der TPLF."
Mitarbeit: Dawit Endeshaw, Uta Steinwehr