Konflikt am Nil: Schafft Äthiopien Tatsachen?
16. Juli 2020Der Pegel am Großen Äthiopischen Renaissance-Damm (GERD) steigt - das erkennen alle Konfliktparteien an. Doch die Uneinigkeiten beginnen schon bei der Frage nach dem Warum: Die flussabwärts gelegenen Länder Ägypten und Sudan sind besorgt, dass Äthiopien mit dem Aufstauen des Blauen Nils begonnen haben könnte, ohne zuvor eine Vereinbarung mit den auf das Wasser angewiesenen Staaten getroffen zu haben. Das sudanesische Wasserministerium führt seine Messwerte als Beweis an, dass der Nachbar die Fluttore geschlossen haben müsse.
Äthiopien hat seitdem binnen weniger Stunden mehrfach seine Position geändert: Zunächst dementierte die Regierung einen solchen Schritt. Kurz darauf sagte Wasserminister Seleshi Bekele, es werde nicht mit dem Stauen gewartet, bis der Bau abgeschlossen sei. Dann hieß es in einer Depesche an das sudanesische Außenministerium wiederum, die Information, dass die Fluttore geschlossen wurden, sei inkorrekt.
Satellitenbilder dokumentieren bereits seit Ende Juni ansteigende Pegelstände. Ein DW-Korrespondent beobachtete vor Ort Indizien, die auf einen Beginn des Stauprozesses hindeuten. Äthiopien hatte schon vor Monaten bekundet, ab Mitte Juli Wasser aufstauen zu wollen. Auch die jüngste Verhandlungsrunde ging ohne Einigung zu Ende. Der sich verschärfende Streit gilt Beobachtern inzwischen als Sicherheitsrisiko für die Region.
Sicherheit in Gefahr
Für Dawid Wolde Giorgis vom Internationalen Institut für Sicherheit in Addis Abeba ist der Streit besonders zwischen Ägypten und Äthiopien kritisch: "Die aktuelle Situation sollte nicht nur den beiden Ländern überlassen werden. Das wird Auswirkungen auf die Sicherheitslage in der Region und in Afrika haben", sagt Giorgis im Juni im DW-Interview. Wenn die Konfrontation anhalte, könne es zu Krieg in der Region kommen, fürchtet Giorgis. "Der einzig gangbare Weg für beide Länder ist, eine Krisensitzung aller Nil-Staaten einzuberufen und gleichzeitig den Dialog mit den Staatschefs der afrikanischen Länder zu führen."
Ägypten fürchtet um seine Wasserversorgung - das Land am Nil ist mit seinen fast 100 Millionen Einwohnern fast vollständig von dieser Lebensquelle abhängig. Die GERD-Talsperre liegt flussaufwärts am Blauen Nil und würde die Wassermenge, die nach Ägypten weiterfließt, deutlich verringern. Je nachdem, wie schnell Äthiopien das Becken füllt, rechnet Ägypten mit 14 bis 22 Prozent weniger Wasser, im Extremfall würden 30 Prozent des Agrarlandes veröden. Ende Juni hat Ägypten auch den Sicherheitsrat der Vereinten Nationen eingeschaltet, um eine "faire und ausgewogene Lösung" zu erreichen".
Äthiopien lässt sich aber bisher nicht auf die künftig stromabwärts fließenden Wassermengen und zeitlichen Fristen festlegen. Stattdessen werden Tatsachen geschaffen: Die im Juli begonnene Regensaison ist ein idealer Zeitpunkt, um das für gigantische 74 Milliarden Kubikmeter Wasser ausgelegte Becken zu füllen. Die flussabwärts liegenden Anrainer Ägypten und Sudan sehen die bevorstehende Regenzeit mit großer Sorge - schon bald will der Bauherr die ersten Stromturbinen der Talsperre testen.
Ringen um den Wasserstand
Äthiopien hofft, 4,9 Milliarden Kubikmeter Wasser während der Monate Juli und August aufzufangen. Das Volumen in dieser ersten Füllphase des massiven Beckens würde ausreichen, um Mitte 2021 die ersten beiden Turbinen zu starten. Bis der Stausee vollgelaufen ist, dürften weitere sieben Jahre vergehen, so dass die Talsperre voraussichtlich mit allen 16 Turbinen 2029 - mit fünf Jahren Verspätung - in Betrieb genommen werden kann. Dann soll das größte Wasserkraftwerk des Kontinents die ostafrikanischen Länder mit Strom versorgen.
Schon seit einem Jahrzehnt ringen die drei Anrainer des Blauen Nils um die Frage, wie das Wasser gerecht aufgeteilt werden kann. In Ägypten wächst seither die Sorge, Felder im Niltal könnten veröden und Trinkwasserbrunnen austrocknen. Sudan teilt solche Sorgen, sieht aber auch Vorteile: Billiger Strom für die Entwicklungsprojekte des Landes und weniger Überflutungen kämen dem armen Land zugute.
Streitpunkt: Umgang mit Dürre
Wichtigster Streitpunkt bleibt: Wie können künftigen Dürreperioden vermindert werden - wer ist in der Pflicht? "Das Management von Dürren ist eine gemeinsame Verantwortung", sagte Gedion Asfaw im Juni der DW. Er ist Leiter der äthiopischen Delegation in der "Tripartite Commission" und Chefunterhändler Äthiopiens im Nil-Streit. Asfaw verweist darauf, dass beschlossen sei, dass mit dem Bau und somit auch mit der Stauung begonnen werden könne, während die Verhandlungen noch liefen. "Die Parteien werden die Gespräche wieder aufnehmen. Das Befüllen des Beckens ist nicht abhängig vom Stand der Verhandlungen", schreibt Asfaw an DW.
Der Sudan - ein fragiles Land, das nach Bürgerkriegen und einer Revolution vor einem Jahr gerade erst zu Stabilität finden muss - hat vorgeschlagen, die Verhandlungen mit Ägypten und Äthiopien über einen Mega-Staudamm am Nil auf Premierminister-Ebene hochzustufen. Ein solches Treffen ist bislang aber nicht geplant. Die offenen Fragen "sind rechtlicher Natur, insbesondere im Hinblick auf einen Mechanismus zur gemeinsamen Wassernutzung", sagte der sudanesische Minister für Wasserressourcen, Yasser Abbas, vor einem Monat. An dieser Konfliktlinie hat sich seitdem nichts geändert.
Bei den jüngsten Verhandlungsrunden lag der Fokus auf den rechtlichen Aspekten und dem Status eines Abkommens. "Ägypten und Sudan wollen absichern, das eventuelle Streitigkeiten in dem geplanten Abkommen in internationalen Gerichtsverfahren entschieden werden - Äthiopien lehnt das ab", sagte William Davison, Äthiopien-Experte bei der International Crisis Group, im Juni der DW.
Kompromisse dringend gesucht
Ein weiterer Streitpunkt: Ägypten will für die Zukunft so viele Details wie möglich in dem Abkommen festlegen. "Äthiopien dagegen versucht, das Abkommen so dynamisch wie möglich halten und nichts zu unterschreiben, was das Land an den Ablass von Mindestmengen bindet. Angesichts des Klimawandels, der diese Berechnungen negativ beeinflussen könnte, will Äthiopien am Ende nicht noch Wasser schulden", sagt Davison.
Der Krisenforscher betont: "Sie müssen Kompromisse zulassen." Aber es fehle an Vertrauen zwischen den drei Parteien und sie beharrten auf eigenen Interessen. "Es ist noch nicht der Punkt in diesem Prozess erreicht, an dem sie über sich hinauswachsen, um eine gemeinsame Lösung zu finden." Diverse Streitschlichter, darunter die Afrikanische Union und US-Präsident Trump, waren bereits bei der Lösungssuche gescheitert.
Angesichts der unklaren Lage hat das ägyptische Außenministerium Äthiopien zu einer offiziellen Erklärung aufgefordert, ob der Füllprozess bereits begonnen habe und wie die Regierung in Addis Abeba weiter verfahren will.
Hinweis: Dieser Artikel wurde ursprünglich am 20. Juni 2020 veröffentlicht und seitdem mehrmals um aktuelle Entwicklungen ergänzt.