Äthiopien: Wahlen, keine Wunder
12. Mai 2021Es ist die Stunde der Wahrheit für Äthiopiens Ministerpräsident und Nobelpreisträger Abiy Ahmed: Am 5. Juni wählen die Ähiopier ein neues Parlament und neue Regionalvertretungen. Eigentlich hätten die Wahlen schon im August 2020 stattfinden sollen, doch der Termin wurde wegen der Corona-Pandemie verschoben. Doch eine friedliche Abstimmung scheint angesichts zahlreicher Auseinandersetzungen in weiter Ferne.
Wiederaufflammende Gewalt
"Das große Problem ist das Ausmaß der Gewalt, das wir in dieser Zeit im ganzen Land sehen, das im Vorfeld der Wahlen Anfang Juni zuzunehmen scheint", sagt William Davison, Ostafrika-Experte bei der Denkfabrik International Crisis Group (ICG), im DW-Interview.
Besonders in der Region Benishangul-Gumuz und auch in Oromia, der größten der neun Verwaltungsregionen in Äthiopien, hätten die Aktivitäten der Aufständischen zugenommen, so Davison. Das könne es dem Wahlvorstand schwer machen, eine Wahl in diesen Gebieten durchzuführen. Die Sicherheitslage sei fragil, die Gewalt könne durch verstärkte Angriffe von ethnischen Milizen eskalieren.
Hinzu kommen logistische Probleme bei der Organisation der Wahl. Mehr als 56 Millionen wahlberechtige Bürger sollten registriert werden. Laut Davison war der Wahlvorstand zunächst nicht in der Lage, die Wählerregistrierung in West-Oromia durchzuführen, massive Probleme habe es auch in Benishangul gegeben. Das hänge direkt mit den Sicherheitsproblemen in diesen Gebieten zusammen.
Und damit nicht genug: "In Tigray herrscht ein Bürgerkrieg, ein Ausnahmezustand. Es wird also keine Wahlen in Tigray geben", sagt Davison. "Und in den Regionen Afar und Somali, wo es kürzlich zu Gefechten wegen eines Territorialstreits zwischen den regionalen Paramilitärs kam, gab es auch Verzögerungen bei der Wählerregistrierung."
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Opposition boykottiert die Wahl
Infolge der brisanten Lage haben sich einige Oppositionsparteien von den Wahlen distanziert. Die Oromo-Befreiungsfront (OLF) zog sich zurück: Die Inhaftierung einiger OLF-Anführer und die Schließung ihrer Büros habe die Arbeit der Partei unmöglich gemacht. Der demokratische Raum sei verengt, hieß es in Medienberichten.
Die OLF ist eine frühere Rebellengruppe und hat viele Anhänger in der Ethnie der Oromo, der größten Bevölkerungsgruppe des Vielvölkerstaats Äthiopien. Auch der mächtige Oromo-Förderalistenkongress (OFC) tritt bei den Wahlen nicht gegen Abiys regierende Wohlstandspartei (PP) an.
Der OFC-Parteivorsitzende Tiruneh Gamta räumt der Wahl keine großen Erfolgschancen ein: "Ich sage das nicht, weil wir an dieser Wahl nicht teilnehmen. Alle Parteien, die unterschiedliche Ideen haben, müssen ein gemeinsames Verständnis zumindest der Hauptprobleme und der aktuellen Situation im Land erreichen", sagte Gamta der DW. "Wir müssen über den Weg diskutieren, wie wir die Bürger im Konflikt beruhigen und den nötigen Frieden bringen können."
Nationaler Konsens gefordert
Anders die Oppositionspartei "Äthiopische Bürger für Soziale Gerechtigkeit (EZEMA)". Sie vertritt die Meinung, Wahlen seien das beste Mittel gegen die aktuellen Unruhen. "Ich bin überzeugt, dass Wahlen in der derzeitigen Situation in Äthiopien ein Muss sind. Wir brauchen einen nationalen Konsens. Aber solch ein Konzept zu erstellen, ist zeitaufwendig", so der Parteivorsitzende Girma Seifu im DW-Interview.
Äthiopiens Ministerin für Frieden, Muferiat Kamil, zieht Lehren aus den Erfahrungen, die das Land in der Vergangenheit gemacht hat: Eine Übergangsregierung helfe nicht in der Krise. "Was wir wollen, ist eine echte Demokratie, die wir auf einer fundamentalen Basis aufbauen. Wahlen sind nicht das einzige Mittel, um Demokratie aufzubauen, aber sie sind eines der wichtigsten Instrumente dafür. Es ist ein Instrument, das die Regierung legitimieren wird", sagte Kamil der Deutschen Welle.
ICG-Experte Davison bezweifelt das. Die EZEMA-Partei könnte im Juni die Wohlstandspartei des Ministerpräsidenten stark herausfordern, schätzt Davison. Er glaubt aber, die PP werde das Rennen in der Region Oromia machen. "Die Frage ist nur, inwieweit damit eine Legitimation durch die Bevölkerung angenommen werden kann." Noch unwahrscheinlicher sei jedoch, dass die verschiedenen Oppositionsparteien in Äthiopien dieses Ergebnis akzeptieren und die Wohlstandspartei als legitimen Gewinner betrachten würden.
Wahlbeobachter steigen aus - drohende Eskalation
Ministerpräsident Abiy ist selbst Oromo. Mit seinem Amtsantritt 2018 waren Hoffnungen auf eine Öffnung des autoritär regierten Landes am Horn von Afrika verbunden. Zunächst gab es zahlreiche Zeichen in diese Richtung, die Abiy 2019 den Friedensnobelpreis einbrachten.
Doch der übereilte Umbau des Landes ließ alte Spannungen wieder aufbrechen. Auf Autonomie-Bestrebungen reagierte Abiy dann mit harter Hand und der Einschränkung von Grundrechten. So trug der militärische Konflikt in der Region Tigray dem Premier viel Kritik ein.
Aller Kritik zum Trotz gilt es als wahrscheinlich, dass Abiys Wohlstandspartei, die erst vor Kurzem die langjährige Regierungskoalition EPRDF abgelöst hatte, siegreich aus den Wahlen hervorgehen wird. Doch die Europäische Union äußerte Zweifel am Wahlverlauf, Anfang dieser Woche sagte sie ihre geplante Wahlbeobachtungsmission ab: "Zu den Standardanforderungen für die Entsendung einer Mission gehört es, ihre Unabhängigkeit zu gewährleisten, also die Ergebnisse der Mission öffentlich und frei zu kommunizieren." Das habe die Regierung abgelehnt, sagte Nabila Massrali, Sprecherin der EU-Kommission, der DW.
Klar ist schon jetzt: Die Wahlen allein werden Abiys Probleme nicht aus der Welt schaffen. "Wenn dieser Wahlprozess nicht von einem Versuch begleitet wird, zu einer allumfassenden Politik zurückzukehren, dann könnte die Wahl dazu führen, die politischen Spaltungen Äthiopiens zu verschärfen", sagt William Davison von der International Crises Group. Er hält eine politische Amnestie für inhaftierte Führer und die Aufnahme umfassender politischer Verhandlungen für dringend notwendig. Ansonsten könne die Gewalt im Land noch zunehmen.
Mitarbeit: Seyoum Getou, Jan Philipp Wilhelm