Äthiopien: Trotz Gewalt wird gewählt
21. Juni 2021Seit dem frühen Morgen warteten Menschen vor den Wahllokalen - zum Teil zunächst vergeblich. "Uns war gesagt worden, dass es um 6 Uhr beginnen würde, aber noch ist niemand da", sagte ein Äthiopier der DW am späten Morgen in Hawassa, der Hauptstadt zweier Südregionen. Er wisse nicht, was das Problem sei: "Viele alte Menschen warten auf die Wahlen."
Dass die Parlamentswahlen nun mit mehr als einem Jahr Verspätung stattfinden können, nachdem die COVID-19-Pandemie und bewaffnete Konflikte den Fahrplan durcheinander geworfen hatten, lässt manche aufatmen: "Wir können die Wahlen abhalten", freute sich ein Wähler angesichts der langen Schlangen vor den Wählerlisten. Sein Votum: Er wolle eine Führung, die sich für Entwicklung und Gleichberechtigung, aber auch für Frieden und Demokratie einsetze.
Krieg in Tigray, Boykott in Oromia
An beidem fehlt es in dem Vielvölkerstaat am Horn von Afrika, der jahrzehntelang in der Hand einer ethnischen Minderheit war: Zwar hatte Premierminister Abiy Ahmed für seinen Kurs der Öffnung 2019 den Friedensnobelpreis bekommen. Doch der Umbau misslang. Stattdessen führt die Regierung seit Herbst einen Krieg gegen die Tigray-Region, der Millionen Menschen in die Flucht getrieben hat, rund 350.000 Menschen sind vom Hunger bedroht. UN-Menschenrechtskommissarin sprach am Vormittag von schweren Menschenrechtsverletzungen. In Tigray - wie in insgesamt 100 von 547 Wahlkreisen - finden deshalb gerade keine Wahlen statt.
In der zentralen Region Oromia zeigte sich indessen wenig Wahlbetrieb. Die beiden wichtigsten Parteien, der Oromo Federalist Congress und die Oromo Liberation Front, boykottieren die Wahl: Es seien Kandidaten verhaftet und Parteibüros beschädigt worden. "Es gibt keine alternative Partei in Oromia", begründete ein Passant in der Stadt Guder seinen Wahlboykott im DW-Gespräch: "Die eine Partei, die zur Wahl steht, kann weder Siegerin noch Verliererin sein. Diese Wahl ist sinnlos." Oromia ist Heimat der größten ethnischen Gruppe der Oromo, zu der auch der seit 2018 amtierende Premierminister Abiy gehört.
Wieder handlungsfähig werden
Trotz aller Schwierigkeiten und regionaler Besonderheiten sieht der politische Analyst Chalachew Tarekegn die Wahl als wichtiges Signal. "Wir werden nun endlich eine gewählte Regierung haben", sagte Chalachew der DW. Zwar sei noch nicht abzusehen, ob es auf eine Einparteien-Regierung oder eine Koalition hinauslaufe.
Doch die demokratische Legitimation sei wichtig, um die zahlreichen Probleme des Landes anzugehen: "Eine gewählte, handlungsfähige Regierung würde Äthiopien in die Lage versetzen, sich den inneren und außenpolitischen Herausforderungen zu stellen und die nationalen Interessen zu vertreten", so der Politikwissenschaftler von der Universität Bahir Dar. Dazu zählt er auch den seit Jahren gärenden diplomatischen Streit mit Ägypten und dem Sudan um den Grand-Renaissance-Staudamm im Westen des Landes.
Die Europäischen Union hatte kurzfristig ihre Wahlbeobachtermission abgesagt, weil die Voraussetzungen nicht gegeben seien. Ludger Schadomsky, Head of Amharic Service bei der DW, betont, von einer freien und fairen Wahl könne angesichts der Ausnahmesituation, die einen Urnengang in Teilen des Landes unmöglich mache, sicher nicht die Rede sein.
"Äthiopiens Ansehen in der Weltgemeinschaft hat durch den Krieg in Tigray und die folgende humanitäre Katastrophe erheblich gelitten", so Schadomsky. "Es muss im Interesse der Regierung sein, dass die Wahl so friedlich wie möglich verläuft." Das wäre immerhin ein Teilerfolg für Abiy Ahmed. Zu seinen nächsten Aufgaben wird es dann auch gehören, die Wahlen in den jetzt fehlenden Wahlkreisen wie versprochen im Herbst nachzuholen.
Mitarbeit: Seyoum Getu, Alemnew Mekonnen, Shewangizaw Wegayehu, Solomon Muchie, Maria Gerth, Eshete Bekele