Nerds gegen Google: "The Billion Dollar Code"
6. Oktober 2021Zwei Typen im Berlin der beginnenden 1990er. Der eine ist Kunststudent mit großen Ideen, der andere Computernerd. Beide treffen sich 1993 in einem Technoclub und entwickeln gemeinsam die Idee, eine Art globales Gesamtkunstwerk zu schaffen. Per Mausklick soll man an jeden Punkt der Welt reisen können, indem man sich aus dem Weltraum an den Ort heranzoomt.
Schnell ist klar, dass dies eine Rechenleistung erfordert, die Anfang der 1990er noch nicht denkbar war. Außer man hat einen Telekommunikationsriesen als Sponsor und einen Hackerclub mit im Boot: Geldgeber ist die Deutsche Telekom, die Entwickler sind Mitglieder des Chaos Computer Clubs.
Aus Berlin in die ganze Welt
Das Projekt "Terra Vision" wird mit heißer Nadel gestrickt und unter chaotischen Umständen fertiggestellt. Termingerecht stellen die beiden Jungs ihr Projekt 1994 auf einer internationalen Kommunikationsmesse im japanischen Kyoto vor. Mit durchschlagendem Erfolg.
Auf einer Reise ins Silicon Valley gerät der Quellcode für "Terra Vision" in falsche Hände - und 2005 kommt Google, zu dem Zeitpunkt schon ein Tech-Gigant aus dem kalifornischen Silicon Valley, und bringt Google Earth heraus. Die beiden Jungs aus Deutschland sehen sich ihrer Idee beraubt, der Algorithmus soll von Google geklaut worden sein. Schließlich mündet die Geschichte in einem Prozess zwischen David und Goliath.
Die Story funktioniert überall
Die Miniserie erzählt in zwei Zeitsträngen und vier Teilen, wie zwei belächelte Nerds eine Idee entwickeln, einen Großkonzern und schließlich die ganze Welt davon überzeugen - und von einem Tech-Giganten durch eine juristische Finte um ihren Ruhm und letztendlich viel Geld gebracht werden.
Netflix hat mit dieser deutschen Produktion einmal mehr gezeigt, dass es nicht wichtig ist, wo eine Geschichte entsteht, sondern wovon diese Geschichte handelt. Die Nerds hätten ebenso in Japan oder in Südafrika sitzen können - der Kern der Story funktioniert auf der ganzen Welt.
Wenn Netflix eine Serie oder einen Film produziert, dann hat dies Hand und Fuß: Vom Look, von der Story, vom Schnitt, vom Drehbuch und vom Soundtrack her kann "The Billion Dollar Code" locker mit internationalen Produktionen mithalten. Was das Ganze noch sympathischer macht: Die deutschen Schauspieler synchronisieren sich in der englischen Version selbst.
Zeitreise in die 1990er
Die 1990er-Jahre werden detailgenau wiedergegeben, wir tauchen mit den beiden Protagonisten Juri Müller und Carsten Schlüter in die aufregende Welt der Nachwendezeit im pulsierenden Berlin ein, mit seinen Technoclubs, der wild herumexperimentierenden Kunstszene, den typischen Computernerds, die damals noch niemand wirklich ernst genommen hat - eine Zeit, wo ein Girokonto zum Establishment gehörte und eigentlich alle jungen Menschen cool waren. Dieses neuartige Internet bedeutete Revolution und Freiheit ohne Grenzen; die Idee davon, dass alles Wissen für alle verfügbar sein kann, war damals unfassbar neu und aufregend. Geldgeber warfen mit irrsinnigen Summen um sich, um diese neue Welt mit aufzubauen - die Zukunft stand vor der Tür.
Das Silicon Valley war das El Dorado des neuen Computerzeitalters: Hier versammelten sich die digitalen Goldsucher in einem gigantischen Technik-Park unter Palmen, mit Basketballkörben und Espressomaschinen.
25 Jahre später sitzen die Pioniere von damals mit ihren Anwälten zusammen und bereiten sich auf einen Gerichtsprozess vor - einen Prozess, den sie gegen den Internetgiganten Google führen möchten. Weil sie beweisen wollen, dass sie diejenigen sind, die mit "Terra Vision" den Grundstein für Google Earth, Google Maps und sämtliche heute gebräuchlichen Navigationssysteme gelegt haben.
Geschichte beruht auf wahren Begebenheiten
Regisseur Robert Thalheim und Drehbuchautor Oliver Ziegenbalg haben mit "Billion Dollar Code" eine Zeitreise kreiert, die auf wahren Begebenheiten beruht. Eine Achterbahnfahrt, temporeich und emotional, die in einem spannenden Gerichtsdrama endet - mit einem Cast aus durchweg hervorragenden Schauspielerinnen und Schauspielern. Die Idee zu der Geschichte entstand beim Grillen mit einem Nachbarn, der sich als Joachim Sauter entpuppte: jener Medienkünstler, der Anfang der 1990er "Terra Vision" mit entwickelte und tatsächlich gegen Google vor Gericht zog.
Den Filmemachern aber war es nicht wichtig, eine Art Gerechtigkeit herzustellen oder herauszuarbeiten, welchem technischen Genie Google Earth nun wirklich zu verdanken ist. Sie haben den Rechtsstreit um den Quellcode zum Anlass genommen, eine fiktionale Geschichte zu erzählen, eine Geschichte über die Ideale, mit denen diese Tech-Generation gestartet ist und was dann daraus geworden ist, so Robert Thalheim. "Wie sich die Machtverhältnisse verschoben haben und die Pioniere von dieser Entwicklung selbst überrollt werden. Heute sprechen alle nur noch über die Multimillionäre, die mit dem Internet steinreich geworden sind und jetzt zum Mond fliegen. Aber wir wollten zeigen, wie alles anfing, und die Geschichte von denen erzählen, die nie im Rampenlicht standen."
Für die Authentizität der Serie sorgten viele Gespräche mit Zeitzeugen sowie die Gerichtsakte - hier hielt sich das Drehbuch an tatsächlich gesagte Sätze, um nicht doch noch mit Google in Konflikt zu geraten. Auch Joachim Sauter stand den Filmemachern zur Seite. Die fertige Serie aber konnte der Kunstprofessor nicht mehr erleben - er starb im Juli 2021. Ihm ist "The Billion Dollar Code" gewidmet.
Dieser Artikel wurde kurz nach seiner Veröffentlichung aktualisiert, um deutlich zu machen, dass es sich hierbei ausschließlich um die Besprechung einer fiktiven Serie handelt.