Der Erfolg südkoreanischer Popkultur
25. Dezember 2021Die Spielwelt ist so bunt wie die Auswahl im Kaugummi-Automat. Undenkbar, dass hier eine Bedrohung lauert - bis das Spiel beginnt und plötzlich Menschen sterben, zu hunderten. Den vorerst Überlebenden steht das blanke Entsetzen in die Gesichter geschrieben.
Damit ist noch nicht zu viel verraten über die Netflix-Serie "Squid Game", einen der größten Erfolge in der noch recht jungen Geschichte des Streaming-Anbieters. Die Grundhandlung ist längst bekannt, schließlich hat die Serie einen globalen Hype ausgelöst und ist breit diskutiert worden, sowohl hymnisch lobend als auch äußerst kritisch, wegen der expliziten Gewaltszenen.
Der Erfolg der Produktion aus Südkorea ist kein singulärer, sondern der vorläufige Höhepunkt in einer Reihe erfolgreicher popkultureller Exporte des Landes.
Charterfolge, Literaturpreise, Film des Jahres
Neue Alben von K-Pop-Gruppen wie BTS oder Blackpink führen weltweit die Charts an, ihre Auftritte sorgen für hysterisch kreischende Fans. Südkoreanische Literatur räumt internationale Preise ab, die Schriftstellerin Han Kang erhielt für ihren Roman "Die Vegetarierin" 2016 den Man Booker Prize, der Schriftsteller Kim Young-ha 2020 für "Aufzeichnungen eines Serienmörders" den Deutschen Krimipreis.
2019 sorgte Bong Joon-hos Film-Satire "Parasite" für Aufsehen und gewann 2020 überraschend vier Oscars, darunter für den besten Film des Jahres.
Der gegenwärtige Erfolg der südkoreanischen Popkultur hat indes einen langen Vorlauf. Schon Mitte der 1990er-Jahre wurde der Begriff Hallyu geprägt, der die Popularität und Verbreitung zeitgenössischer Kultur aus Südkorea beschreibt, auch bekannt als Koreanische Welle.
Diese Welle breitete sich zunächst in anderen asiatischen Ländern aus. "Den chinesischen Markt hat Hallyu schnell erobert, die Industrie hat aber immer in die USA geschielt, wo sie viele Fehlschläge erlitten hat", sagt Michael Fuhr, Geschäftsführer am Center for World Music und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Musik und Musikwissenschaft der Uni Hildesheim.
Südkorea habe sich von anderen Märkten schon früh durch das System des Idoltrainings unterschieden, sagt Fuhr, der zu K-Pop promoviert und zuletzt mit Wissenschaftlern aus Liverpool und Seoul in einem Forschungsprojekt über die Fankultur im K-Pop gearbeitet hat.
Mit militärischem Drill zum Erfolg
Jahrelang lassen die großen Entertainment-Konzerne YG, S.M. und JYP Kinder und Jugendliche ein knallhartes Programm durchlaufen, um Girl- und Boygroups am Reißbrett zu entwerfen. Hunderte Jugendliche trainieren in 14-Stunden-Tagen mit militärischem Drill, in der Hoffnung, am Ende einen der begehrten Plätze in einer Gruppe zu bekommen.
Ende der Nullerjahre feierte die von S.M. Entertainment gecastete Gruppe Girls' Generation in Südkorea und Japan große Erfolge, der internationale Durchbruch blieb aber ebenso aus wie bei der 2006 von YG zusammengestellten Boyband Big Bang.
Im Kino sorgte 2003 der Film "Old Boy" für einen Achtungserfolg, den Spike Lee zehn Jahre später allerdings mit Josh Brolin für den US-Markt neu verfilmte. Das dürfte heute kaum noch nötig sein.
Ein Meilenstein für den endgültigen Durchbruch vor allem der südkoreanischen Musik im Westen war das Jahr 2012: Der Song "Gangnam Style" des Rappers Psy wurde zum Welthit, binnen weniger Monate klickten User das Video mehr als eine Milliarde mal bei YouTube, bis heute hat es dort mehr als 4,2 Milliarden Aufrufe.
"Psy war kein klassischer Repräsentant von K-Pop", sagt Michael Fuhr, "man hat aber an seinem Erfolg das erste Mal gesehen, dass die Sprache kein Hindernis mehr für einen internationalen Hit war."
Die Videoplattform YouTube erweiterte die Möglichkeiten. Plötzlich waren Plattenfirmen nicht mehr davon abhängig, dass Redaktionen und Sender ihre Lieder oder Videos spielten - die Zielgruppen konnten selbst zusammenstellen, was ihnen gefiel. Seitdem haben sich Digitalisierung und Social-Media-Plattformen ohnehin rasant entwickelt.
Verkauft wird ein Gesamtpaket
"Die Fans von K-Pop sind gut vernetzt, die Fankultur ist sehr partizipativ und die Industrie weiß das zu bedienen", sagt Michael Fuhr. Bei der Zusammensetzung der Gruppen werde darauf geachtet, die Band-Mitglieder nach außen hin mit unterschiedlichen Charaktereigenschaften zu inszenieren, damit sich möglichst viele Jugendliche mit ihnen identifizieren könnten.
Die Bands müssten online präsent sein, damit die Fans das Gefühl bekämen, am Leben ihrer Idole teilzuhaben, sagt Michael Fuhr. "Es ist ein Paket, das verkauft wird." Sobald sich die Idole in der Öffentlichkeit anders präsentieren, als es die Fans erwarten, schlägt das Pendel jedoch zur anderen Seite aus: Hasskommentare und Druck haben einige Stars bereits in den Suizid getrieben.
Zum Erfolg trage auch die hohe Produktionsqualität von Musik und Videos bei. "Aus westlicher Sicht ist das, was man dort sieht, irgendwie neu, aber gleichzeitig gibt es einen Wiedererkennungswert", sagt Michael Fuhr, der auf das bekannte Modell von Boybands wie Take That oder die ausgefeilten Choreografien bei Michael Jackson verweist.
"Die westlichen Märkte haben sich sattgehört an US-Popstars und das Neue ist spannend, aber gleichzeitig nicht zu fremd."
Bildsprache mit Videospiel-Ästhetik
In der Bildsprache liegen auch die wesentlichen Erfolgsrezepte von "Squid Game". Die bunte Ästhetik der Serie ist besonders einem jüngeren Publikum aus Videospielen vertraut - und kaum eine Szene ist global besser vernetzt als die der Gamer. So soll Mundpropaganda zum Erfolg der Serie wesentlich beigetragen haben: Als Netflix die Serie veröffentlichte, lief sie nämlich eher schleppend an. Erst, als die ersten Zuschauer begeistert waren und "Squid Game" weiter empfahlen, entwickelte sich der Neunteiler zum Selbstläufer.
Auch die von den Wachleuten in der Serie getragenen Symbole - Kreis, Quadrat und Dreieck - finden sich auf Controllern der Spielekonsolen wieder. Die Gaming-Community tauscht sich derweil über Twitch und Tiktok aus, wo es unzählige Parodien in "Squid Game"-Kostümen gibt.
So wie die südkoreanische Musikindustrie, achten auch Streaming-Dienste darauf, dass ihre Inhalte möglichst weltweit anschlussfähig sind. "Geldmangel, Ellenbogengesellschaft und die wachsende Kluft zwischen Arm und Reich sind bekannte Motive, die wirklich überall auf der Welt verstanden werden", sagt Michael Fuhr.
Auch hier trifft bekanntes auf neues. Sowohl "Squid Game" wie auch "Parasite", der Zombiefilm "Train to Busan" von 2016 oder früher "Old Boy" vermitteln Gesellschaftskritik. Die Formate geben, wenn auch nur am Rande ihrer Hauptplots, einen Eindruck von der Lebenswelt Südkoreas.
Denn hinter der bunten Welt verbergen sich reale Probleme. Abseits der Glitzerwelt leben viele Menschen in Südkorea in Armut, hausen in beengten Verhältnissen, häufig ohne Strom und Wasser oder in Untergeschossen, wie die arme Familie, die sich in "Parasite" ins Leben einer reichen Familie drängt.
Zur Demo in "Squid Game"-Verkleidung
Laut OECD haben etwa 15 Prozent der rund 52 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner weniger als das Durchschnittseinkommen zur Verfügung, die Altersarmut liegt bei 50 Prozent, die Jugendarbeitslosigkeit bei knapp zehn Prozent - fast doppelt so hoch wie in Deutschland.
Viele Familien verschulden sich, um ihren Kindern eine gute Bildung ermöglichen zu können. Gleichzeitig ist gesellschaftlich weit verbreitet, auf jene hinabzusehen, die weniger haben.
"Die Gesellschaft ist immer noch sehr kapitalistisch geprägt", sagt Michael Fuhr. Es herrsche "eine hohe Arbeitsmentalität und in Teilen eine neo-konfuzianistische Wert-Hierarchie".
Auch die Spielgruppe, die in "Squid Game" auf einen Millionengewinn hofft, hat Geldnot in die Verzweiflung getrieben. Wie nah zumindest die Ausgangslage an der Realität ist, zeigten im vergangenen Oktober Proteste gegen die Arbeitsmarktpolitik der Regierung, zu der Demonstranten in Seoul in Masken und Kleidung im Stile von "Squid Game" kamen.