Südamerika hat den Sozialismus satt
30. August 2016Die letzte Abstimmung im brasilianischen Senat steht noch aus. Aber niemand bezweifelt, dass Präsidentin Dilma Rousseff abgesetzt wird. Mit Rousseff verliert dann ein weiteres Staatsoberhaupt der einst so erfolgreichen Linken in Lateinamerika ihr Amt.
Nicht nur in Brasilien scheint der trügerische Zauber des Sozialismus verflogen zu sein, der in den 2000er Jahren weite Teile Lateinamerikas erfasst hatte: Lula da Silva in Brasilien, Evo Morales in Bolivien, Néstor und Cristina Kirchner in Argentinien - überall auf dem Kontinent holten linke Parteien Mehrheiten in Parlaments- und Präsidentschaftswahlen.
Gemeinsam war ihnen von Anfang an: das Heilsversprechen einer gerechteren Politik durch Umverteilung, das Feindbild-Trio Kapitalismus-USA-Oligarchie, eine große Portion Nationalismus sowie ein Personenkult in bekannter südamerikanischer Caudillo-Tradition.
Angestachelt
Das Extrembeispiel ist in jeder Hinsicht die "Bolivarische Revolution" gegen den "Imperialismus des Nordens" auf der "geheiligten Erde" Venezuelas. Hugo Chávez war 1998 der erste in dieser Reihe von Staatsoberhäuptern, die er selbst als Bewegung verstand. Er nannte sie "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" und avancierte mit seinem großen Charisma zu ihrer Ikone.
Chávez attackierte die USA mit undiplomatischen Parolen, vergrätzte den Westen durch Bündnisse mit Iran und Kuba. Er enteignete in- und ausländische Unternehmen, subventionierte den Konsum und ließ Sozialwohnungen errichten. Kurz: Er tat rücksichtslos alles, was seiner Wählerschaft gefiel. In Venezuela brachte ihm das genug Zustimmung, um drei Wahlen zu gewinnen und einen Putschversuch zu überstehen.
Aber auch außerhalb des Landes verbreitete sich sein Credo, dass die "US-Imperialisten" und ihr Kapitalismus - nahezu alleine - die Schuld an der weit verbreiteten Mittellosigkeit in Lateinamerika trügen. Der Glaube daran, dass linke Parteien beides verdrängen und den Wohlstand für alle bringen würden, erfasste Menschen auf dem gesamten Subkontinent.
Abgefeiert
Sozialisten und Sozialdemokraten regierten immer mehr Länder - vor allem in Südamerika. Und tatsächlich folgten Jahre des wirtschaftlichen Wachstums, von dem auch Arme profitierten.
2012 stellte der US-Politologe Kenneth M. Roberts in einer Studie fest, dass die Ungleichverteilung der Einkommen in allen Ländern Südamerikas zwischen 2000 und 2010 abgenommen habe. Dies gelte auch für konservativ geführte Länder, allerdings sind die Zahlen in links regierten Staaten deutlicher. Roberts zieht den Schluss, dass der politische Druck durch linke Parteien auch konservative Regierungen dazu gebracht habe, stärker auf die Bedürfnisse der unteren Einkommensgruppen einzugehen.
Konkreter bedeutete das - wie in Venezuela - massive Umverteilung mittels Sozialprogrammen, hohen gesetzlichen Mindestlöhnen und Subventionierung von Konsumgütern. Der Erfolg war über Jahre so augenfällig, dass sogar einige (eigentlich) liberale Ökonomen lobten, die gestiegene Kaufkraft verbreitere die Konsumentenbasis zum Vorteil der Gesamtwirtschaft.
Abgewirtschaftet
Als Hugo Chávez am 5. März 2013 starb, wurden mit Ausnahme von Kolumbien und Paraguay alle zwölf Staaten Südamerikas von sozialistischen oder sozialdemokratischen Parteien regiert. Das Präsidentschaftsmandat in Venezuela ging umstrittenermaßen an Chávez' designierten Nachfolger Nicolás Maduro über, der das Land seither im Sinne, aber ohne die Begabung seines politischen Ziehvaters weiterführt.
Dreieinhalb Jahre später, nach 18 Jahren Sozialismus, ist das Land wirtschaftlich ruiniert. Die Unterernährung von Kleinkindern hat den höchsten Stand seit den frühen 80er-Jahren erreicht. Das politische Klima ist geprägt von Drohungen, Bespitzelung und handfester Gewalt gegen Andersdenkende.
Auch darin ist Venezuela ein Extremfall. Aber in anderen Ländern ist die Stimmung ebenfalls aufgeheizt, weil Schuldige dafür gesucht werden, dass die Kaufkraft sinkt. Denn, was viele in der Euphorie der Boomjahre übersehen hatten, schlägt nun durch: Das Geld, mit dem brasilianische, argentinische und venezolanische Wähler stimuliert wurden, stammte zu großen Teilen aus dem Export von Soja, Erdöl, Eisenerz und anderen Rohstoffen. Befriedigt hatten die Latinos ihren Nachholbedarf vorrangig mit Importwaren: Markenartikel aus den USA und Billigwaren aus China.
Die Wertschöpfung in den Ländern selbst aber kam nur sporadisch von der Stelle. Deshalb versiegte die staatliche Geldquelle mit dem Verfall der Rohstoffpreise. Durch ungünstige Wechselkurse steigen zudem die Preise für einst erschwingliche Importwaren. Und während Lebensmittel wie Soja und Fleisch - sozusagen als letztes Mittel gegen den Devisenmangel - exportiert werden, sind sogar die Lebensmittel teurer geworden.
Ausgeträumt
Seither haben linke Parteien in Südamerika bei Wahlen bestenfalls noch knappe Mehrheiten geholt. In Chile ist die Sozialdemokratin Michelle Bachelet unter Druck, die Populisten Evo Morales in Bolivien und Rafael Correa in Ecuador müssen wohl ihren Plan begraben, auch nach der nächsten Wahl weiter zu regieren. Nur Uruguays gemäßigter Sozialist Tabaré Vázquez sitzt noch einigermaßen fest im Sattel, aber die letzte Wahl war ein Warnschuss.
Natürlich bemühen sich die Regierungschefs die Schuld für die Krise von sich zu weisen, wie Rafael Correa, der kürzlich auf einen "perfekten Sturm" externer Ereignisse verwies. Aber es ist nicht allein die Wirtschaftskrise, die lateinamerikanische Wähler ihren linken Heilsversprechern vorwerfen. Ebenso schwer wiegt die Enttäuschung, dass die angeblichen Anwälte des kleinen Mannes nicht weniger korrupt sind als die alten Eliten.
Genau das zeigt auch der Fall der Arbeiterpartei in Brasilien: Ihr Abstieg begann, bevor die Krise auf die Geldbeutel der Menschen durchschlug. Der Mensalão-Skandal, in dessen Verlauf hochrangige Parteimitglieder wegen Stimmenkaufs im Parlament zu mehrjährigen Haftstrafen verurteilt wurden, erschütterte nachhaltig das Vertrauen in die Regierungspartei. Dilma Rousseff selbst hatte damit zwar wohl nichts zu tun. Aber als Aufsichtsratsmitglied von Petrobras hatte sie offenbar beharrlich weggesehen, als dort massenweise Schlüsselpositionen mit PT-Funktionären besetzt wurden. Nun ist der halbstaatlichen Ölkonzern Dreh- und Angelpunkt des nächsten historischen Korruptionsskandals in Brasilien.
Dass Rousseff nun ihr Amt wegen des - offenbar vorgeschobenen und nicht bewiesenen - Vorwurf verliert, sie habe Staatsbilanzen geschönt, um ihre Wiederwahl zu unterstützen, zeigt, wie stark ihre politischen Gegner geworden sind. Dass dennoch eine Mehrheit der - inzwischen sehr politisierten - Brasilianer die Amtsenthebung unterstützt oder zumindest toleriert, zeigt, dass sie aufgewacht sind, aus dem Traum von der Gerechtigkeit des Sozialismus.