Der Sozialist des 21. Jahrhunderts
5. März 2013"Es riecht hier immer noch nach Schwefel", bekundete Hugo Chávez im September 2006 am Rednerpult vor der UNO-Vollversammlung, "gestern war der Teufel hier. Und er sprach, als gehörte ihm die Welt." Er meinte den damaligen US-Präsidenten George W. Bush.
Hugo Chávez war bekannt für unverblümte Worte und blumige Metaphern. Seine polemischen Auftritte richteten sich meist gegen die USA und ihren "nordamerikanischen Imperialismus". Mit seinen Kampfansagen an den Neokapitalismus eroberte er die Herzen seiner Wähler und vieler Linker auf der ganzen Welt. Bei manchen Menschen erlangte er den Status eines Heilsbringers und Medienstars, den er in seiner eigenen Fernsehshow kultivierte.
Seiner politischen Karriere war das erwartungsgemäß zuträglich, ebenso wie seine laxe Auslegung demokratischer Prinzipien. Ihm reines Kalkül zu unterstellen, scheint aber seiner Person nicht gerecht zu werden. Denn seine Herkunft verlieh Chávez' martialischer Rhetorik ein hohes Maß an Glaubwürdigkeit.
Mann des Volkes
Hugo Chávez stand in der Tradition der Caudillos - charismatischer Milizenführer, die seit den Unabhängigkeitskriegen vor 200 Jahren weite Teile Lateinamerikas beherrschten. Und nirgendwo dominierten Caudillos so lange wie in den weiten Flussebenen des Orinoco. Genau in dieser Gegend wurde Chávez am 28. Juli 1954 geboren. Sechs Monate Trockenzeit und sechs Monate Regen mit teils meterhohen Überschwemmungen prägen diese Landschaft und ihre Bewohner: Viehhirten, deren raue Umgangsformen in die wildromantische Umgebung passen und deren kriegerische Vergangenheit die Identität der Venezolaner und ihr Liedgut durchdringen.
Begonnen hatte der Sohn einer einfachen Lehrerfamilie sein politisches Engagement mit Anfang 30 als Soldat in der venezolanischen Armee. 1983 gründete er mit anderen Offizieren die "Bolivarianische Revolutionsbewegung 200". Damit erinnerte er an den "Libertador" Simón Bolívar, der einst das nördliche Südamerika von den spanischen Kolonialherren befreite und als dessen Jünger sich Chávez begriff.
Unzufrieden mit der Politik, die offensichtlich an den Interessen der breiten Bevölkerung vorbeiging, putschte die Gruppe 1992. Doch der Staatsstreich gegen den damaligen Präsidenten Carlos Perez schlug fehl. Dessen Nachfolger Rafael Caldera entließ Chávez zwei Jahre später aus dem Gefängnis. Daraufhin machte sich Chávez auf die Suche nach politischen Verbündeten in Lateinamerika und lernte unter anderem Kubas Diktator Fidel Castro kennen. 1996 gründete er seine Linkspartei "Bewegung der fünften Republik", um für die Wahlen 1998 zu kandidieren.
Präsident der Armen
Zunächst als Außenseiter gehandelt, wurde Chávez schnell populär: Er übersetzte seine sozialistischen Inhalte in die Sprache des Volkes, traf dessen Nerv und wurde zum ersten von vier Malen zum Präsidenten gewählt - mit großer Mehrheit.
Gleich nach der Amtseinführung schritt er mit Enteignungen in wichtigen Wirtschaftszweigen zur Tat. Mit den Einnahmen der Staatsbetriebe, allen voran aus dem Ölsektor, finanzierte er umfassende Sozialprogramme, die Mittellosen ärztliche Unterstützung und deren Kindern eine schulische Grundausbildung sicherten. 2001 folgte eine Landreform zur Wiederbelebung brachliegender Ländereien. Bis heute wurden rund fünf Millionen Hektar - etwa die Fläche Niedersachsens - in Staatseigentum überführt und ärmeren Bauern und Viehhirten zur Nutzung zugeteilt.
Ikone der Linken Lateinamerikas
Mit seiner radikalen Kehrtwende - weg vom Neokapitalismus, der in Lateinamerika seit den 1980er-Jahren nominell vorherrschendes Modell war - stieß er offenbar grenzübergreifend eine neue politische Debatte an: Linksgerichtete Präsidenten folgten ihm in anderen Ländern der Region.
Über die Wirtschaftsordnung hinaus propagierte Chávez eine neue, gemeinsame Identität der lateinamerikanischen Völker, indem er sie emotional gegen die USA vereinte. Er war eine der treibenden Kräfte bei den Gründungen der außenpolitischen Bündnisse CELAC, ALBA und UNASUR als Gegengewicht zur Hegemonialmacht im Norden.
Ideologischer Schlingerkurs
Obwohl sich Chávez nicht zu schade war, venezolanisches Erdöl gegen US-Dollar an den Klassenfeind zu liefern, nahm seine Anti-USA-Haltung manische Züge an. Teilweise führte das zu fast schelmischen Aktionen: Im Winter 2006/07 verteilte er Heizöl an arme US-Amerikaner. Und als Antwort auf die "Achse des Bösen", die sein Intimfeind George W. Bush ausrief, gründete er mit dem Weißrussen Alexander Lukaschenko und Irans Mahmud Ahmadinedschad die "Achse des Guten".
Doch angesichts der Tiraden, in denen Chávez Israel als mörderischen Arm des nordamerikanischen Reichs bezeichnet, erscheint die Freundschaft zum Iran in ernsterem Licht. Bereits während seiner ersten Präsidentschaftskampagne förderte ihn der argentinische Holocaust-Leugner Norberto Ceresole. Und die jüdische Gemeinde Venezuelas fühlt sich vom antisemitischen Aufrufen der regierungsnahen Medien bedroht.
Chávez' Erbe
Ebenso zwiespältig ist Chávez' innenpolitischer Erfolg zu bewerten: Während seiner Regierungszeit entkamen viele Venezolaner ihrer extremen Armut. Doch nach wie vor gilt die Hälfte der Bevölkerung als arm. Trotz Landreform werden rund 70 Prozent der Lebensmittel importiert, und die Wirtschaft ist nach wie vor vom Erdöl und seinem Weltmarktpreis abhängig, denn in die Infrastruktur ist kaum noch Geld geflossen. Stattdessen haben Preispolitik und mangelnde Rechtssicherheit manche Wirtschaftszweige lahm gelegt.
Auch die Korruption und das organisierte Verbrechen hat Chávez nicht annähernd in den Griff bekommen. Und was vielleicht noch schlimmer ist: Die Mordrate in Venezuela hat sich seit 1999 verdreifacht.
Hugo Rafael Chávez Frías hat den "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" begründet und ihn zu einer Bewegung in Lateinamerika gemacht. Im Gegensatz zu seinen Kollegen, etwa in Brasilien und Chile, hat er dabei keine Rücksicht auf freiheitliche Werte und die demokratische Ordnung genommen: Einschüchterungen und Verfolgung von Oppositionellen durch seine bolivarische Miliz, Kontrolle von Medien und Wahlbetrug werden ihm zur Last gelegt. Doch, wo Chávez herkommt, hat das Tradition. Auch deshalb wird Chávez für viele seiner Landsleute eine Ikone bleiben. Trotz allem.