Baltikum zwischen Sorge und Zuversicht
23. Dezember 2021Die drei Präsidenten, die sich zu Beginn der Weihnachtswoche in Kiew trafen, sind auf ganz unterschiedliche Weise vom selben Problem betroffen: Die Ukraine unter Wolodymyr Selenskyj sieht sich einem massiven russischen Truppenaufmarsch an seiner Grenze gegenüber. Polen seinerseits beherbergt einen US-Stützpunkt mit Luftabwehrraketen, die NATO-Staaten gegen russische Bedrohungen absichern sollen. Deshalb müsste Präsident Andrzej Duda im Ernstfall fürchten, dass Polen buchstäblich in die Schusslinie geriete.
Litauens Präsident Gitanas Nauseda brachte in Kiew eine weitere Perspektive ein: Nach jahrzehntelanger sowjetischer Fremdherrschaft wurde sein Land, genau wie Polen, Mitglied von EU und NATO. Litauen war 1990 das erste Land, das sich aus Moskaus Griff befreite; vor der endgültigen Unabhängigkeit rollten 1991 noch einmal sowjetische Panzer durch die Hauptstadt Vilnius. Gemeinsam forderten die drei Präsidenten in einer gemeinsamen Erklärung "stärkere Sanktionen gegen Russland wegen seiner andauernden Aggression gegen die Ukraine".
Russlands Präsident Wladimir Putin hatte jüngst von der NATO noch einmal verlangt, keine osteuropäischen Staaten mehr als Bündnispartner aufzunehmen, hatte "langfristige, juristische Sicherheitsgarantien" gefordert und gedroht: "Im Fall einer Fortsetzung der ziemlich aggressiven Linie unserer westlichen Kollegen werden wir mit adäquaten militärisch-technischen Maßnahmen antworten, werden auf die unfreundlichen Schritte hart reagieren." Für Aufregung sorgte auch ein Propagandavideo, das eine russische Kampfdrohne bei einem Manöver über der Krim zeigen soll.
Ein NATO-Beitritt der Ukraine steht derzeit zwar nicht zur Debatte - doch der Blick der ehemaligen Sowjetrepublik nach Westen sorgt den Kreml; auch deshalb, weil Marschflugkörper von dort aus nur wenige Minuten bis Moskau bräuchten.
"Bedrohlichste Lage seit 2014"
"Meiner Meinung nach ist das die bedrohlichste Lage seit 2014", sagt der litauische Politikwissenschaftler Tomas Janeliūnas, der am Institut für internationale Beziehungen der Universität Vilnius eine Professur innehat. Damals hatte Russland die ukrainische Halbinsel Krim annektiert. "Vieles deutet darauf hin, dass Russland die Alarmbereitschaft seines Militärs nicht reduziert - im Gegenteil: Es gibt Anzeichen, dass nicht nur Militär, sondern auch Mediziner, Ingenieure und Propaganda-Spezialisten an der ukrainischen Grenze zusammengezogen werden", sagt Janeliūnas im DW-Gespräch. In einer solch angespannten Lage sei das Risiko, dass Fehler zu ungeplanten Zusammenstößen führen, sehr hoch - dass also die Lage selbst ohne eine politische Entscheidung eskalieren könnte.
Unmittelbar nach der Annexion der Krim war die Sorge groß, dass ein weiterer Angriff der russischen Armee das Baltikum treffen könnte: Die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland sind die einzigen NATO-Mitglieder, die einst der Sowjetunion angehörten und nach deren Zerfall die Westbindung konsequent vorangetrieben haben. Mit den baltischen Staaten ist Moskau eine geopolitische Pufferzone verloren gegangen - und die direkte Verbindung zur westlichen Oblast Kaliningrad, die nunmehr eine Exklave ist. Zudem machen ethnische Russen insbesondere in Lettland und Estland weiter große Bevölkerungsanteile aus.
NATO-Ostflanke im Baltikum
2014 war die Anspannung im Baltikum förmlich zu spüren - anders als heute, sagt der Politologe Janeliūnas: "Ich würde sagen, die Gesellschaft ist gerade viel ruhiger. Die Präsenz der NATO-Truppen im Baltikum ist eine wichtige Quelle dieses Selbstvertrauens." Infolge der Krim-Annexion hatte die NATO ihre "verstärkte Vornepräsenz" im Baltikum aufgebaut und halbjährlich wechselnde Gefechtsverbände von je 1000 Soldatinnen und Soldaten in jedes der drei Länder sowie nach Polen geschickt. Im litauischen Rukla kommt die Hälfte des Kontingents von der Bundeswehr, die dort auch das Kommando innehat. Im Vergleich zur Battlegroup habe Russland in Kaliningrad jedoch "zehn Mal so viele Truppen zusammengezogen", warnte kürzlich der litauische Verteidigungsminister Arvydas Anusauskas.
Für Tomas Janeliūnas ist die Truppengröße jedoch nicht entscheidend: "Allein, dass NATO-Staaten Truppen ins Baltikum entsenden, bestätigt, dass die NATO im Falle eines Konflikts fast automatisch eingreifen wird", erklärt der Politikwissenschaftler. "Das ist eine symbolische, aber sehr wichtige Garantie, dass der Artikel 5 nicht nur auf dem Papier steht, sondern in der Realität funktioniert." Die Klausel garantiert, dass die anderen NATO-Mitglieder im Angriffsfall einem angegriffenen Partner zu Hilfe eilen.
Solidarität mit den Balten
So beeilte sich auch die neue deutsche Bundesregierung, ihre Unterstützung zu signalisieren. Die erste Dienstreise als Verteidigungsministerin führte Christine Lambrecht nach Rukla, wo sie beteuerte, Deutschland stehe "ganz fest an der Seite unserer Partner und Freunde". "Die Lage in der Ukraine ist sehr ernst und ich kann die Sorgen unserer baltischen Verbündeten nachvollziehen und verstehe, wenn man sich bedroht fühlt", sagte Lambrecht.
Wenn es tatsächlich hart auf hart käme, hätte die NATO wohl einen Geländevorteil: "Das Baltikum wäre die erste Frontlinie eines möglichen Konflikts zwischen NATO und Russland, und alle dort stationierten Truppen würden nicht ausreichen, um Russland etwas entgegenzusetzen", sagt Janeliūnas. "Aber es gab schon viele Militärübungen und es gibt konkrete Pläne, wie Truppen in dem Gebiet bewegt werden - und zwar nicht nur auf Papier, sondern auch real erprobt."
Alle drei baltischen Staaten haben seit 2014 ihren Militäretat erhöht und übertreffen inzwischen stabil das Zwei-Prozent-Ziel der NATO. Litauen hat die Wehrpflicht wieder eingeführt, in den beiden anderen Ländern war sie nie abgeschafft worden.
Ruf nach entschlossenen Sanktionen
So ist für viele Menschen im Baltikum die Sorge vor einer russischen Aggression derzeit nur ein Thema unter vielen: Wie in vielen anderen europäischen Ländern ist derzeit die Corona-Lage angespannt. Litauen befindet sich zudem in einem beispiellosen Handelsstreit mit China, und der Umgang mit dem autoritär regierten Nachbarn Belarus schlägt dort ebenfalls weitere Wellen.
Dennoch hofft man in Litauen darauf, dass Sanktionen nun nicht bloß angedroht werden, sagt Tomas Janeliūnas: "Russland lässt sich durch Warnungen nicht einschüchtern, nur recht hartes Handeln kann einen Unterschied machen", sagt Janeliūnas im Gespräch mit der DW. "Das meint natürlich nicht militärische Aktionen, aber der Einsatz harter wirtschaftlicher Werkzeuge wäre ein starkes Signal."
Beim Präsidententreffen in Kiew sprachen sich die Ukraine, Polen und Litauen für "vorbeugende" Sanktionen aus - in der Hoffnung, dass Europa somit vor der "aggressiven Politik Russlands geschützt" werde.