Das schwierige Erbe der Sowjetunion
15. September 2021Das 70-jährige Jubiläum konnte die 1922 gegründete Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR) nicht mehr zelebrieren. Zu stark war der Wunsch nach Freiheit und Unabhängigkeit – im Baltikum, im Kaukasus, in Zentralasien. Zwischen März 1990 und Dezember 1991 entstanden 15 Staaten neu oder kehrten zu ihren Wurzeln zurück. Noch früher, am 9. November 1989, fiel die Berliner Mauer. Ein knappes Jahr später feierte das seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs in Ost und West geteilte Deutschland dank der friedlichen Revolution in der DDR seine Wiedervereinigung.
Geburtshelfer und Totengräber: Michail Gorbatschow
Die Freiheitsbewegung in der Mitte und im Südosten Europas ließ das sowjetische Einflussgebiet und Teile des eigenen Imperiums von der politischen Landkarte verschwinden. Auslöser dieser Zeitenwende war der Reform-Kommunist Michail Gorbatschow, der seit 1985 als Kreml-Chef in Moskau mit Glasnost (Transparenz) und Perestroika (Umstrukturierung) einen neuen Kurs einschlug. Einen Kurs, an dessen Ende die Sowjetunion Geschichte ist. Aber auch 30 Jahre später sind die Spuren des Zerfalls dieser damals neben den USA zweiten Supermacht sichtbar und spürbar.
Das ungleich verteilte Erbe befeuert noch immer Hoffnungen und Träume, ist aber auch Ursache für Auseinandersetzungen und Kriege wie in der Ukraine. Von diesen Gegensätzen handelt die Foto-Ausstellung "Postsowjetische Lebenswelten", die ab Mitte September Open Air in Berlin zu sehen ist. Konzipiert von der Bundesstiftung zur Aufarbeitung der SED-Diktatur und dem auf Russland und Belarus spezialisierten Online-Portal dekoder.org. Ein Angebot für die internationale, grenzüberschreitende Bildungs- und Kulturarbeit, das in Plakat-Form weltweit und mehrsprachig bestellt werden kann: neben Deutsch und Russisch auf Englisch, Französisch und Spanisch.
Den Blick über Russland und Moskau hinaus richten
Die 120 Motive, ergänzt durch kurze Texte und QR-Codes für Youtube-Videos, illustrieren die ganze Bandbreite des Alltags und der Gesellschaft: Plattenbauten und Popkultur, Religion und Personenkult, Krieg und Kriminalität, Armut und Luxus. Autor sowohl der Ausstellung als auch des im Metropol-Verlag erschienenen deutsch-englischen Begleitbandes ist der Osteuropa-Historiker Jan Behrends vom Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam (ZZF). Sein Credo im DW-Gespräch: "Man erlebt viele Überraschungen, wenn man den Blick von Russland und Moskau abwendet, was ja immer sehr im Fokus der deutschen Medien steht."
Zwar gebe es eine gemeinsame postkommunistische Erfahrung, aber tatsächlich sei Postkommunismus in Georgien ein ganz anderer als in Lettland, in Turkmenistan, in Russland oder in der Ukraine. Behrends erinnert beispielhaft an die Entwicklung im Südkaukasus, "wo schon ab 1991 die Gesellschaften in Krieg und Bürgerkrieg abrutschen". Also in dem Moment, als die Sowjetunion in ihre Einzelteile zerfällt.
Bilder im Kopf: Plattenbauten hier, Luxus dort
Ganz anders die Geschichte des Baltikums, wo eine Erfolgsgeschichte geschrieben werde: Beitritt zur Europäischen Union (EU) und in das nordatlantische Verteidigungsbündnis (NATO). In Estland, Lettland und Litauen entstehen stabile Demokratien. Wenn man heute nach Riga fahre, sei der Unterschied zu den skandinavischen Ländern auf der anderen Seite der Ostsee gar nicht mehr so groß, "dass es sofort ins Auge fällt", sagt Behrends.
Den Titel seiner Ausstellung findet Behrends durchaus gewagt – denn was typisch postsowjetisch sei, könne man gar nicht so genau sagen. Man habe ein Bild im Kopf – Plattenbauten auf der einen Seite und ein Luxuslabel wie "Versace" auf der anderen. Wenn man aber genauer hinschaue, dann differenziere es sich doch sehr. "Und das soll Interesse daran wecken, sich vielleicht mal einzelne dieser 15 Staaten genauer anzuschauen." Durchaus auch im Vergleich zu Ostdeutschland, Polen oder Tschechien. Also Ländern und Landesteilen mit eigener Kommunismus- und Sozialismus-Vergangenheit.
30 Jahre nach dem Ende der Sowjetunion registriert Behrends ein gestiegenes Interesse an dem Thema, vor allem wegen der "dramatischen politischen Situation". Der Osteuropa-Kenner verweist auf das System Putin, den Krieg in der Ukraine und die Freiheitsproteste in Belarus. "Das sind ja alles aktuelle Themen, die sich letztendlich aber nur verstehen lassen, wenn wir sie historisch erklären." Dazu soll die multimediale Ausstellung "Postsowjetische Lebenswelten" ihren Teil beitragen.